Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
zweimal in meinen Ba-Visionen gesehen hatte.
Als ich ihm gegenüberstand, wäre ich fast tot umgefallen, so hammermäßig sah er aus. [Ach … ha, ha. Die Ironie wäre mir glatt entgangen, aber danke, Carter. Beim Anblick des Totengottes wäre ich fast tot umgefallen. Jaja, zum Totlachen. Kann ich jetzt endlich weitererzählen?]
Er hatte blasse Haut, verwuschelte schwarze Haare und dunkelbraune Augen, die an geschmolzene Schokolade erinnerten. Er trug schwarze Jeans, Springerstiefel (wie ich!), ein zerrissenes T-Shirt und eine schwarze Lederjacke, die ihm ziemlich gut stand. Er war groß und schmal wie ein Schakal. Und wie bei einem Schakal standen seine Ohren ein wenig ab (was ich süß fand). Um den Hals trug er eine Goldkette.
Ganz ehrlich, normalerweise renne ich den Jungs nicht hinterher. Definitiv nicht! Ich hatte die meiste Zeit in der Schule damit zugebracht, mich über Liz und Emma lustig zu machen, die Jungs nachliefen. Zum Glück waren sie in diesem Moment nicht dabei, denn sie hätten mich ohne Ende aufgezogen.
Der Junge in Schwarz stand da und klopfte seine Jacke ab. »Ich bin kein Hund«, murrte er.
»Nein«, stimmte ich zu. »Du bist …«
Hätte Carter mich nicht unterbrochen, wäre mir zweifellos süß oder etwas ähnlich Peinliches rausgerutscht.
»Du bist Anubis?«, fragte er. »Wir kommen wegen der Feder der Wahrheit.«
Anubis runzelte die Stirn. Er musterte mich eindringlich mit seinen unglaublich wundervollen Augen. »Ihr seid nicht tot.«
»Nein«, antwortete ich. »Obwohl wir uns echt Mühe geben.«
»Mit Lebenden befasse ich mich nicht«, antwortete er bestimmt. Dann sah er zu Cheops. »Immerhin reist ihr mit einem Pavian. Das zeugt von gutem Geschmack. Bevor ich euch töte, gebe ich euch Gelegenheit zu erklären, warum ihr hier seid. Warum hat Bastet euch hierhergebracht?«
»Genau genommen«, erklärte Carter, »hat Thot uns geschickt.«
Carter fing an, ihm die Geschichte zu erzählen, doch Cheops unterbrach ihn ungeduldig. »Agh! Agh!«
Pavianisch scheint ziemlich effizient sein, denn Anubis nickte, als hätte er in diesem Moment die ganze Geschichte begriffen. »Verstehe.«
Er sah Carter finster an. »Du bist also Horus. Und du bist …« Sein Finger wanderte zu mir.
»Ich bin – ich bin – ähm –«, stammelte ich. Normalerweise bin ich ja nicht auf den Mund gefallen, aber beim Anblick von Anubis fühlte ich mich, als hätte der Zahnarzt mir eine fette Betäubungsspritze verpasst. Carter fragte sich wahrscheinlich, ob ich endgültig den Verstand verloren hatte.
»Ich bin nicht Isis«, brachte ich heraus. »Ich meine, Isis treibt sich irgendwo in mir herum, aber ich bin nicht sie. Sie ist nur … zu Besuch.«
Anubis legte den Kopf schief. »Und ihr beide wollt Seth herausfordern?«
»Das ist der Plan«, bestätigte Carter. »Wirst du uns helfen?«
Anubis machte eine finstere Miene. Mir fiel ein, dass Thot gesagt hatte, Anubis hätte nur alle Jubeljahre mal gute Laune. Heute war das wohl nicht der Fall.
»Nein«, erwiderte er kategorisch. »Ich werde euch auch zeigen, warum.«
Er verwandelte sich wieder in einen Schakal und raste dorthin zurück, wo er hergekommen war. Carter und ich sahen uns an. Da wir nicht wussten, was wir sonst tun sollten, rannten wir Anubis hinterher, noch tiefer in die Düsternis hinein.
In der Mitte des Tempels war ein großer runder Saal, der zwei Funktionen gleichzeitig zu erfüllen schien. Einerseits war es eine große Halle mit brennenden Kohlebecken und einem leeren Thron am anderen Ende. Im Zentrum des Raums stand eine Waage – ein großes eisernes T mit Seilen, an denen zwei goldene Schalen befestigt waren, jede davon groß genug, um einen Menschen aufzunehmen –, doch die Waage war kaputt. Eine der goldenen Schalen war zu einem V verbeult, es sah aus, als wäre etwas sehr Schweres darauf herumgesprungen. Die andere Schale hing nur an einem einzelnen Seil.
Am Fuß der Waage lag zusammengerollt und fest schlafend das merkwürdigste Ungeheuer, das ich je gesehen hatte. Es hatte einen Krokodilkopf mit einer Löwenmähne. Die vordere Hälfte seines Körpers war ein Löwe, das Hinterteil war jedoch glänzend, braun und fett – offenbar ein Nilpferd. Das Komische daran war: Das Tier war winzig – also nicht größer als ein gewöhnlicher Pudel, was es vermutlich zu einem Nilpfudel machte.
Das war also die Halle, zumindest eine Schicht davon, denn zur gleichen Zeit schien ich auf einem gespenstischen Friedhof zu
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