Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
Halle der beiden Wahrheiten oft mit diesem Teil der sterblichen Welt.«
Die Jazzparade bewegte sich die Straße hinunter, immer mehr Zuschauer nahmen an der Party teil.
»Was feiern sie?«
»Eine Beerdigung«, erklärte Anubis. »Sie haben den Verstorbenen gerade zu Grabe getragen. Jetzt entlassen sie seine Seele in die Freiheit. Die Trauernden feiern das Leben des Toten mit Musik und Tanz, während sie den leeren Leichenwagen aus dem Friedhof hinausbegleiten. Sehr ägyptisch, dieses Ritual.«
»Woher weißt du das alles?«
»Ich bin der Gott der Begräbnisse. Ich kenne jedes Todesritual der Welt – wie man richtig stirbt, wie man Körper und Seele für das Leben nach dem Tod vorbereitet. Ich lebe für den Tod.«
»Auf Partys bist du bestimmt der Hit«, meinte ich. »Warum hast du mich hierhergebracht?«
»Um zu reden.« Als er die Finger spreizte, rumpelte das Mausoleum neben uns. Aus einem Spalt in der Wand kam ein langes weißes Band herausgeflattert. Es wurde immer länger und nahm neben Anubis Gestalt an. Mein erster Gedanke war: Mein Gott, er hat eine verzauberte Rolle Klopapier dabei.
Doch dann stellte ich fest, dass es Stoff war, eine Bahn weiße Leinenbinde – für Mumien. Der Stoff formte sich zu einer Bank und Anubis setzte sich darauf.
»Ich kann Horus nicht ausstehen.« Er bedeutete mir, neben ihm Platz zu nehmen. »Er ist laut und arrogant und hält sich für was Besseres. Isis dagegen hat mich immer wie einen Sohn behandelt.«
Ich verschränkte die Arme. »Du bist nicht mein Sohn. Und ich hab dir bereits erklärt, dass ich nicht Isis bin.«
Anubis sah mich fragend an. »Nein. Du benimmst dich nicht wie ein Gottling. Du erinnerst mich an deine Mutter.«
Das traf mich wie ein Eimer kaltes Wasser. (Dank Zia wusste ich leider genau, wie sich das anfühlt.) »Du hast meine Mutter gekannt?«
Anubis blinzelte, als würde ihm klar, dass er etwas Falsches gesagt hatte. »Ich – ich kenne alle Toten, aber der Weg jeder Seele ist geheim. Ich hätte nicht davon anfangen sollen.«
»Du kannst nicht einfach so was sagen und dann keinen Ton mehr von dir geben! Ist sie im ägyptischen Jenseits? Hat sie es durch deine kleine Halle der beiden Wahrheiten geschafft?«
Anubis sah unbehaglich auf die goldenen Schalen, die auf dem Friedhof wie eine Fata Morgana schimmerten. »Das ist nicht meine Halle. Ich beaufsichtige sie bloß, bis Lord Osiris zurückkommt. Es tut mir leid, wenn ich da einen wunden Punkt getroffen habe, aber mehr kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, warum ich es überhaupt erwähnt habe. Es ist bloß … Von deiner Seele geht ein ähnliches Leuchten aus. Ein starkes Leuchten.«
»Wie schmeichelhaft«, brummte ich. »Meine Seele leuchtet.«
»Tut mir leid«, wiederholte er. »Setz dich doch bitte.«
Ich wollte weder das Thema fallenlassen noch hatte ich vor, mich auf irgendwelche Mumienbinden neben ihn zu setzen, doch mein zielgerichteter Ansatz zur Informationsgewinnung schien nicht zu funktionieren. Deshalb ließ ich mich auf der Bank nieder und versuchte, so genervt wie möglich auszusehen.
»Und?« Ich sah ihn schmollend an. »Was hat es dann mit dieser Gestalt auf sich? Bist du ein Gottling?«
Er runzelte die Stirn und legte sich eine Hand auf die Brust. »Du willst wissen, ob ich einen menschlichen Körper bewohne? Nein, ich kann jeden Friedhof, jeden Ort des Todes oder der Trauer bewohnen. Es ist meine normale Erscheinungsform.«
»Oh.« Ein Teil von mir hatte gehofft, dass ein richtiger Junge neben mir sitzen würde – jemand, der nur zufälligerweise einen Gott beherbergte. Aber das wäre natürlich zu schön gewesen, um wahr zu sein. Ich war enttäuscht, gleichzeitig war ich wütend auf mich, weil ich enttäuscht war.
Es ist doch sowieso aussichtslos, Sadie, schalt ich mich selbst. Er ist der Scheiß-Begräbnisgott. Er ist fast fünftausend Jahre alt.
»Also«, fuhr ich fort, »wenn du mir schon nichts Nützliches erzählen kannst, dann hilf mir wenigstens auf andere Weise. Wir brauchen die Feder der Wahrheit.«
Er schüttelte den Kopf. »Du hast keine Ahnung, was du da verlangst. Die Feder der Wahrheit ist zu gefährlich. Sie einem Sterblichen zu geben würde gegen Osiris’ Regeln verstoßen.«
»Aber Osiris ist nicht hier.« Ich deutete auf den leeren Thron. »Hier sollte er sitzen, oder? Siehst du Osiris etwa?«
Anubis schaute zum Thron. Er fuhr mit den Fingern über seine Goldkette, als würde sie sich enger um seinen Hals legen. »Ja, ich habe hier ewig
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