Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
gewartet und die Stellung gehalten. Ich war nicht wie die anderen eingesperrt. Ich weiß nicht, warum … Aber ich habe auf jeden Fall mein Bestes gegeben. Als ich hörte, dass die fünf befreit wurden, habe ich auf die Rückkehr von Lord Osiris gehofft, aber …« Er schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Warum vernachlässigt er seine Pflichten?«
»Weil er vielleicht in meinem Vater feststeckt.«
Anubis starrte mich an. »Das hat der Pavian nicht erzählt.«
»Na ja, vielleicht kann ich mich nicht so gut ausdrücken wie ein Pavian. Aber vereinfacht gesagt wollte mein Vater ein paar Götter befreien, aus Gründen, die mir nicht ganz klar sind … Vielleicht hat er sich gedacht: Schau ich mal im British Museum vorbei und jag den Rosettastein in die Luft! Auf diese Weise hat er Osiris befreit, allerdings hat er jetzt auch Seth und den Rest der Bande am Hals.«
»Seth hat also deinen Vater gefangen genommen, während dieser Osiris beherbergte«, stellte Anubis fest. »Das heißt, Osiris wurde ebenfalls eingesperrt, von meinem –« Er hielt inne. »Von Seth.«
Interessant, dachte ich.
»Dann weißt du ja, worum es geht«, sagte ich. »Du musst uns helfen.«
Anubis zögerte, plötzlich schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht. Sonst bekomme ich Ärger.«
Ich starrte ihn bloß an und prustete los. Ich konnte nicht anders, das klang so albern. »Du kriegst Ärger? Wie alt bist du, sechzehn? Du bist ein Gott!«
Im Dunkeln konnte ich es nicht genau erkennen, aber ich schwöre, er lief knallrot an. »Du verstehst das nicht. Die Feder lässt nicht die kleinste Lüge durchgehen. Würde ich sie dir geben und du würdest ein einziges unwahres Wort sagen, während du sie bei dir trägst, oder etwas tun, das unwahr ist, würdest du auf der Stelle zu Asche verbrennen.«
»Du hältst mich also für eine Lügnerin.«
Er sah mich verständnislos an. »Nein, ich will nur –«
»Hast du noch nie gelogen? Was wolltest du doch gerade – über Seth sagen? Ich schätze, er ist dein Vater. Stimmt’s?«
Anubis schloss den Mund, dann öffnete er ihn wieder. Er sah aus, als wäre er gern wütend geworden, hätte aber irgendwie vergessen, wie das ging. »Bist du immer so nervend?«
»Normalerweise bin ich noch viel nervender.«
»Warum hat dich deine Familie nicht mit jemand verheiratet, der ganz, ganz woanders lebt?«
Er sagte das, als wäre das eine ernst gemeinte Frage, und jetzt war ich an der Reihe, platt zu sein. »Entschuldige mal, Todesbübchen! Ich bin gerade mal zwölf! Na ja … fast dreizehn, und zwar eine sehr reife fast Dreizehnjährige, aber darum geht es gar nicht. In meiner Familie werden Mädchen nicht einfach ›verheiratet‹ und du magst zwar alles über Begräbnisse wissen, aber bei den Werbungsritualen hast du noch ein bisschen was nachzuholen!«
Anubis sah verblüfft aus. »Scheint so.«
»Genau! Moment – worüber haben wir doch gleich geredet? Ach, du glaubst wohl, du kannst vom Thema ablenken, was? Ich weiß es wieder. Seth ist dein Vater, hab ich Recht? Gib’s schon zu.«
Anubis ließ den Blick über den Friedhof schweifen. Die Musik der Jazzbeerdigung verlor sich in den Straßen des French Quarter.
»Ja«, bestätigte er. »Zumindest behaupten das die Legenden. Ich hab ihn nie kennengelernt. Meine Mutter hat mich zu Osiris gegeben, als ich noch ein Kind war.«
»Sie … hat dich weggegeben?«
»Sie sagte, sie wolle nicht, dass ich meinen Vater kennenlerne. In Wahrheit wusste sie vermutlich einfach nicht, was sie mit mir anfangen sollte. Ich war nicht wie mein Cousin Horus. Ich war kein Krieger. Ich war … anders als andere Kinder.«
Er klang so bitter, dass ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte. Tja, ich hatte nach der Wahrheit gefragt, aber normalerweise erfährt man die nie, vor allem nicht von Jungs. Aber ich konnte mitreden, wenn es ums Anderssein ging – und um Eltern, die einen weggegeben hatten.
»Vielleicht wollte deine Mutter dich schützen«, schlug ich vor. »Schließlich ist dein Vater der Lord des Bösen und so.«
»Vielleicht«, stimmte er halbherzig zu. »Osiris hat mich unter seine Fittiche genommen. Er machte mich zum Lord der Begräbnisse, zum Bewahrer der Todesrituale. Es ist ein guter Job, aber … du wolltest wissen, wie alt ich bin. Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Im Land der Toten haben Jahre keine Bedeutung. Ich fühle mich noch ziemlich jung, aber die Welt um mich herum ist alt geworden. Und Osiris ist schon so lange weg … Er
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