Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
gekuschelt und um ihre Aufmerksamkeit gekämpft. Sie hatte uns gesagt, dass wir kein Wort von Dads Geschichten glauben sollten. Sie redete mit uns über Astronomie und über Physik und Chemie, als wären wir ihre Collegestudenten. Wenn ich daran zurückdenke, frage ich mich, ob sie das tat, um uns zu warnen: Glaubt nicht an diese Götter und Mythen. Sie sind zu gefährlich.
Ich erinnerte mich daran, wie wir das letzte Mal als Familie nach London gefahren waren und wie nervös Mom und Dad mir im Flugzeug vorkamen. Ich erinnerte mich daran, wie Dad nach dem Tod unserer Mutter ins Haus unserer Großeltern kam und uns erzählte, dass es einen Unfall gegeben hatte. Noch bevor er alles erklärte, wusste ich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, denn ich hatte meinen Vater noch nie zuvor weinen sehen.
Was mich verrückt machte, waren die Kleinigkeiten, die ich tatsächlich vergaß – den Duft von Moms Parfum oder den Klang ihrer Stimme. Je älter ich wurde, umso schwerer fiel es mir, mich an diese Dinge zu erinnern. Dass man sich an überhaupt nichts erinnerte, konnte ich mir nicht vorstellen. Wie kam Zia damit klar?
»Vielleicht …« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Vielleicht solltest du –«
Sie wehrte mit der Hand ab. »Carter, glaub mir, ich habe versucht, mich zu erinnern. Es ist zwecklos. Iskander ist die einzige Familie, die ich je hatte.«
»Und Freunde?«
Zia starrte mich an, als hätte ich ein Fremdwort verwendet. Mir wurde klar, dass ich im Ersten Nomos niemanden gesehen hatte, der annähernd in unserem Alter war. Alle waren entweder wesentlich jünger oder älter.
»Für Freunde hab ich keine Zeit«, sagte sie. »Außerdem, wenn Initianden dreizehn werden, teilt man sie anderen Nomoi rings um die Welt zu. Ich bin die Einzige, die hiergeblieben ist. Ich bin gern allein. Es ist in Ordnung.«
Mir sträubten sich die Nackenhaare. Fast dasselbe hatte ich auch oft geantwortet, wenn ich gefragt wurde, wie es war, von Dad zu Hause unterrichtet zu werden. Ob ich nicht auch gern Freunde hätte. Wollte ich kein normales Leben? »Ich bin gern allein. Es ist in Ordnung.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie Zia auf eine normale High School gehen, die Zahlenkombination ihres Spinds auswendig lernen und in der Cafeteria rumhängen würde. Es überstieg meine Vorstellungskraft. Wahrscheinlich wäre sie genauso verloren wie ich.
»Weißt du was«, sagte ich. »Nach den Prüfungen, nach den Dämonentagen, wenn sich alles beruhigt hat –«
»Nichts wird sich beruhigen.«
»– dann geh ich mit dir ins Einkaufszentrum.«
Sie sah mich verständnislos an. »Ins Einkaufszentrum? Wozu denn das?«
»Einfach so«, erwiderte ich. »Wir essen Hamburger. Schauen uns einen Film an.«
Zia zögerte. »So was nennt ihr ›Date‹, oder?«
Mein Gesichtsausdruck muss selten dämlich gewesen sein, denn er entlockte Zia tatsächlich ein schwaches Lächeln. »Du siehst aus wie ein Gaul, dem man eins mit der Schaufel übergezogen hat.«
»Ich wollte nicht … Ich wollte bloß.«
Sie lachte und plötzlich konnte ich mir doch vorstellen, dass sie auf die High School gehen könnte.
»Ich freu mich auf dieses Einkaufszentrum, Carter«, sagte sie. »Entweder bist du ein sehr interessanter Mensch … oder ein sehr gefährlicher.«
»Einigen wir uns auf interessant.«
Sie machte eine Handbewegung und die Tür erschien wieder. »Geh jetzt. Und sei vorsichtig. Das nächste Mal, wenn du mir hinterherschleichst, hast du vielleicht nicht so viel Glück.«
Im Türrahmen drehte ich mich um. »Zia, was war dieses schimmernde schwarze Zeug?«
Ihr Lächeln verschwand. »Ein Unsichtbarkeitszauber. Nur sehr mächtige Magier können durch ihn hindurchsehen. Du hättest dazu nicht in der Lage sein sollen.«
Sie starrte mich an und schien auf eine Antwort zu warten, ich hatte jedoch keine parat.
»Vielleicht hat er sich … abgenutzt oder so«, brachte ich heraus. »Und, darf ich dich fragen, was es mit der blauen Kugel auf sich hat?«
Sie runzelte die Stirn. »Mit der was?«
»Dem Dings, das du freigesetzt hast und das durch die Decke geflogen ist.«
Sie sah verblüfft aus. »Ich … Ich weiß nicht, was du meinst. Vielleicht hat dir das Kerzenlicht Streiche gespielt.«
Peinliche Stille. Entweder log sie mich an oder ich drehte allmählich durch oder … keine Ahnung. Mir fiel ein, dass ich ihr nichts von meiner Vision mit Amos und Seth erzählt hatte, aber ich hatte das Gefühl, dass ich für eine Nacht schon
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