Die Kane-Chroniken – Der Feuerthron
stieße ein Tintenfisch eine Tintenwolke aus. Die Düsternis breitete sich aus, bis sie sowohl Sadie als auch mich in eine hauchdünne Schattenblase hüllte. Wir konnten hindurchsehen, hofften aber, dass niemand hineinsehen konnte oder die Wolke überhaupt wahrnehmen würde.
»Dieses Mal hast du es richtig gemacht!«, lobte Sadie. »Seit wann beherrschst du diesen Zauberspruch?«
Möglicherweise lief ich rot an. Seit ich gesehen hatte, wie Zia ihn im Ersten Nomos einsetzte, hatte ich monatelang wie verrückt versucht, den Unsichtbarkeitszauber zu ergründen.
»Eigentlich –« Aus der Wolke zischte wie ein Miniaturfeuerwerk ein goldener Funke. »– arbeite ich noch dran.«
Sadie seufzte. »Na ja … immerhin besser als letztes Mal, denn da sah die Wolke aus wie eine Lavalampe. Und davor, als es nach faulen Eiern stank –«
»Können wir nicht einfach loslegen?«, fragte ich. »Wo sollen wir anfangen?«
Sadie konnte den Blick nicht mehr von einem Ausstellungsstück abwenden. Sie bewegte sich wie in Trance darauf zu.
»Sadie?« Ich folgte ihr zu einer Grabplatte aus Kalkstein – einer Stele, die ungefähr einen halben Meter breit und einen Meter hoch war. Die Erläuterung daneben war auf Russisch und Englisch.
»›Aus der Grabkammer des Schreibers Ipi‹«, las ich laut vor. »›Er arbeitete am Hofe des Königs Tutenchamun.‹ Warum interessiert dich …? Oh.«
War ich doof. Das Bild auf dem Grabstein zeigte den verstorbenen Schreiber, wie er Anubis huldigte. Nach ihrem persönlichen Gespräch mit Anubis fand Sadie es bestimmt merkwürdig, ihn auf einer dreitausend Jahre alten Grabmalerei wiederzufinden, vor allem, weil er mit Schakalkopf dargestellt war und einen Rock trug.
»Walt mag dich.«
Ich hatte keine Ahnung, warum ich damit herausplatzte. Dies war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort. Ich wusste, dass ich Walt hier absolut keinen Gefallen tat. Doch seit Bes ihn aus dem Mercedes geworfen hatte, tat er mir leid. Der Typ hatte den weiten Weg nach London auf sich genommen, um Sadie zu retten, und wir hatten ihn im Crystal Palace Park wie einen unerwünschten Anhalter rausgeschmissen.
Irgendwie war ich sauer auf Sadie, dass sie ihm die kalte Schulter zeigte und so auf Anubis abfuhr, der fünftausend Jahre zu alt für sie war und nicht mal ein Mensch. Außerdem erinnerte mich die Art, wie sie Walt abblitzen ließ, zu sehr daran, wie Zia mich am Anfang behandelt hatte. Und vielleicht, wenn ich ehrlich zu mir war, war ich auch sauer, weil Sadie ihre Probleme in London ohne unsere Hilfe gelöst hatte.
Wow. Das klingt echt egoistisch. Aber vermutlich war es die Wahrheit. Erstaunlich, auf wie viele unterschiedliche Weisen einen so eine kleine Schwester gleichzeitig nerven kann.
Sadie wandte den Blick nicht von der Stele. »Carter, du hast keine Ahnung, wovon du redest.«
»Du gibst ihm überhaupt keine Chance«, beharrte ich. »Was immer mit ihm los ist, es hat nichts mit dir zu tun.«
»Wie beruhigend, aber das ist nicht –«
»Außerdem ist Anubis ein Gott . Du glaubst doch nicht ernsthaft –«
»Carter!«, schnauzte sie mich an. Offenbar reagierte mein Umhüllungszauber auf Gefühle, denn aus unserer nicht ganz so unsichtbaren Wolke schwirrte ein weiterer Goldfunken. »Ich habe diesen Stein nicht wegen Anubis angeschaut.«
»Nein?«
»Nein. Und ich werde mit dir ganz sicher nicht über Walt diskutieren. Im Gegensatz zu dem, was du denkst, verbringe ich nicht jede Stunde des Tages damit, über Jungs nachzudenken.«
»Nur die meisten Stunden des Tages?«
Sie verdrehte die Augen. »Schau dir den Grabstein an, du Schwachkopf. Er ist von einer Borte eingefasst, es sieht wie ein Fensterrahmen aus oder –«
»Eine Tür«, sagte ich. »Es ist eine Scheintür. So etwas gab es in vielen Gräbern. Sie war wie ein symbolisches Tor für den Ba des Toten, damit er in die Duat hinein- und wieder herausfliegen konnte.«
Sadie fuhr mit ihrem Zaubermesser über die Ränder der Stele. »Dieser Typ, Ipi, war ein Schreiber, was ein anderes Wort für Magier ist. Vielleicht war er einer von uns.«
»Und?«
»Vielleicht leuchtet der Stein deshalb , Carter. Was, wenn diese Scheintür doch nicht zum Schein da ist?«
Ich betrachtete die Stele eingehender, doch ich bemerkte kein Leuchten. Vielleicht halluzinierte Sadie vor Erschöpfung oder weil sie zu viel Zaubertrank geschluckt hatte. In diesem Moment berührte sie die Mitte der Stele mit ihrem Zaubermesser und sprach den ersten Befehl,
Weitere Kostenlose Bücher