Die Kane-Chroniken – Der Feuerthron
den wir überhaupt gelernt hatten: »W’peh.«
Öffne dich . Auf dem Stein brannte eine goldene Hieroglyphe.
Wie bei einem Filmprojektor drang ein Lichtstrahl aus dem Grabstein. Plötzlich schimmerte vor uns eine normal große Tür – ein rechteckiges Portal zeigte das verschwommene Bild eines anderen Raums.
Ich sah Sadie verblüfft an. »Wie hast du das gemacht?«, fragte ich. »Das hast du noch nie zuvor geschafft.«
Sie zuckte die Achseln, als sei es nichts Besonderes. »Bisher war ich noch nicht dreizehn. Vielleicht liegt es daran.«
»Aber ich bin vierzehn!«, protestierte ich. »Und ich kann es immer noch nicht .«
»Mädchen werden früher erwachsen.«
Ich kniff die Lippen zusammen. Ich hasste die Frühlingsmonate – März, April, Mai –, denn bis zu meinem Geburtstag im Juni konnte Sadie behaupten, nur ein Jahr jünger zu sein als ich. Nach ihrem Geburtstag spielte sie sich immer auf, als würde sie irgendwie aufholen und meine große Schwester werden. Ihr könnt euch vorstellen, was das für ein Albtraum ist.
Sie deutete auf den leuchtenden Eingang. »Nach dir, Bruderherz. Du bist schließlich derjenige mit der Funken sprühenden Unsichtbarkeitswolke.«
Bevor ich mich noch aufregte, ging ich lieber durch das Portal.
Um ein Haar wäre ich im wahrsten Sinn des Wortes auf die Nase gefallen. Die andere Seite des Portals war nämlich ein Spiegel, der anderthalb Meter über dem Boden in der Luft hing. Ich war von einem Kaminsims gerutscht. Als Sadie hinterherkam, konnte ich sie gerade noch rechtzeitig auffangen.
»Danke«, flüsterte sie. »Da hat wohl jemand zu viel Alice hinter den Spiegeln gelesen.«
Ich hatte den Ägyptischen Saal für beeindruckend gehalten, doch im Vergleich zu diesem Ballsaal war er nichts. An der Decke glitzerten kupferfarbene geometrische Muster. Entlang der Wände reihten sich dunkelgrüne Säulen und vergoldete Türen. Auf dem Boden bildete ein aufwendiges Intarsienparkett ein weitläufiges achteckiges Muster. Der brennende Kronleuchter über uns ließ den vergoldeten Stuck und den glänzenden grünen und weißen Stein so hell leuchten, dass meine Augen schmerzten.
Plötzlich bemerkte ich, dass der Großteil des Lichts nicht von dem Kronleuchter kam, sondern von dem Magier, der am anderen Ende des Raums einen Zauber sprach. Obwohl er uns den Rücken zuwandte, wusste ich, dass es Wlad Menschikow war. Er sah genauso aus, wie Sadie ihn beschrieben hatte: ein kleiner rundlicher Mann mit grauem lockigem Haar und einem weißen Anzug. Er stand in einem Schutzkreis, durch den smaragdgrünes Licht pulste. Als er seinen Zauberstab in die Höhe hielt, brannte die Spitze wie ein Schweißbrenner. Zu seiner Rechten, direkt neben dem Kreis, stand eine grüne Vase von der Größe eines ausgewachsenen Mannes. Zu seiner Linken wand sich in glühenden Ketten ein Geschöpf, in dem ich einen Dämon erkannte. Er hatte einen haarigen, menschenähnlichen Körper mit blassvioletter Haut, doch statt eines Kopfes wuchs ein riesiger Korkenzieher zwischen seinen Schultern.
»Erbarmen!«, kreischte er mit dünner metallischer Stimme. Fragt mich nicht, warum ein Dämon mit Korkenzieherkopf kreischen konnte – der Ton hallte jedenfalls das Schraubgewinde hoch, als wäre es eine gewaltige Stimmgabel.
Wlad Menschikow ließ sich bei seinem Sprechgesang nicht stören. Die grüne Vase pulsierte vor Licht.
Sadie stupste mich an und flüsterte: »Schau mal.«
»Ja«, flüsterte ich zurück. »Irgendein Ritual, bei dem etwas herbeigerufen werden soll.«
»Nein«, zischte sie. »Dort.«
Sie deutete nach rechts. In der Ecke, einige Meter vom Kaminsims entfernt, stand ein altmodischer Mahagonischreibtisch.
Sadie hatte mir von Anubis’ Anweisungen erzählt: Wir sollten Menschikows Schreibtisch finden. Der nächste Teil der Sonnenlitanei liege in der obersten Schublade. Konnte das wirklich der Tisch sein? Es schien zu einfach. So leise wir konnten, kletterten Sadie und ich von dem Sims und schlichen an den Wänden entlang. Ich betete, dass die Unsichtbarkeitswolke nicht noch mehr Feuerwerk entzünden würde.
Wir hatten ungefähr die halbe Strecke zum Tisch zurückgelegt, als Wlad Menschikow seinen Sprechgesang beendete. Er rammte den Zauberstab in den Boden, wo er senkrecht stecken blieb; die Spitze brannte immer noch. Als er leicht den Kopf drehte, sah ich das Glitzern seiner weißen Sonnenbrille. Während die große grüne Vase leuchtete und der Dämon in seinen Ketten kreischte, kramte Wlad in
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