Die Kane-Chroniken – Der Schatten der Schlange
belege dich mit diesem Jägerfluch: Eines Tages wirst du von deiner Beute hereingelegt werden, so wie es mir heute ergangen ist. Möge ein Rudel wilder Gummibärchen auf dich losgehen!«
Mit dieser schrecklichen Drohung löste sich Neith zu einem Häufchen Schnur auf.
»Sohn des Seth?« Ich sah Walt fragend an. »Was genau –?«
»Pass auf!«, warnte er. Rings um uns begann der Tempel einzustürzen. Die Luft kräuselte sich, als sich die magische Druckwelle zusammenzog und die Landschaft wieder in das heutige Ägypten verwandelte.
Wir schafften es kaum die Treppe hinunter. Von den letzten Mauern des Tempels blieb nur ein Haufen zerbrochener Lehmziegel übrig. Nach wie vor war der Schatten von Bes darauf zu sehen, allerdings verblasste er in der untergehenden Sonne zunehmend.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Walt.
»Ja, aber wie fangen wir ihn ein?«
Hinter uns räusperte sich jemand.
Ein paar Meter weiter stand Anubis mit düsterem Gesichtsausdruck an eine Palme gelehnt. »Entschuldigung, wenn ich störe. Aber, Walt … es ist so weit.«
Anubis trug die offizielle ägyptische Tracht: einen goldenen Halsschmuck, einen schwarzen Lendenschurz, Sandalen und sonst nichts. Wie ich schon früher erwähnte, können sich nicht viele Jungs diese Aufmachung erlauben, vor allem nicht den Eyeliner. Anubis konnte es.
Mit einem Mal zeigte sich Entsetzen auf seinem Gesicht. Er rannte auf uns zu. Einen Moment lang hatte ich die absurde Vision von mir auf einem Umschlag von Grans alten Liebesschmonzetten, wo sich die verfolgte Unschuld in die Arme eines halb nackten muskulösen Typen stürzt, während ein anderer danebensteht und ihr schmachtende Blicke zuwirft. Ach, die schreckliche Wahl, die ein Mädchen treffen muss! Hätte ich doch bloß einen Moment gehabt, um mich frisch zu machen. Ich war immer noch von Kopf bis Fuß voll getrocknetem Flussschlamm, Schnur und Gras und sah aus, als wäre ich geteert und gefedert worden.
Doch dann drängte sich Anubis an mir vorbei und packte Walt an den Schultern. Tja … das kam unerwartet.
Mir wurde schnell klar, dass er Walt vor dem Umkippen bewahrt hatte. Walts Gesicht war von Schweißperlen bedeckt. Sein Kopf sackte herunter, seine Knie gaben nach, als hätte jemand den letzten Faden durchtrennt, der ihn noch zusammenhielt. Anubis bettete ihn vorsichtig auf den Boden.
»Walt, bleib bei mir«, drängte Anubis. »Wir müssen die Sache zu Ende bringen.«
»Die Sache zu Ende bringen?«, rief ich. Ich weiß nicht, was über mich kam, aber ich hatte das Gefühl, gerade per Photoshop aus meinem Umschlagbild geschnitten worden zu sein. Und wenn es etwas gab, woran ich nicht gewöhnt war, dann war es, nicht beachtet zu werden. »Anubis, was tust du da? Was ist los mit euch beiden? Und welche verdammte Sache? «
Anubis sah mich fragend an, als hätte er meine Anwesenheit vergessen. Das besserte meine Laune auch nicht gerade. »Sadie –«
»Ich habe versucht, es ihr zu erklären«, stöhnte Walt. Anubis half ihm, sich aufzusetzen, auch wenn Walt immer noch elend aussah.
»Verstehe«, sagte Anubis. »Ich vermute, du kamst nicht zu Wort?«
Walt brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Du hättest sie erleben sollen, wie sie Neith über Gummibärchen zugetextet hat. Sie war wie … Keine Ahnung, wie ein verbaler Güterzug. Die Göttin hatte nicht die geringste Chance.«
»Ja, ich hab’s gesehen«, sagte Anubis. »Auf eine nervende Art war es echt süß.«
»Wie bitte?« Ich war nicht sicher, wem ich zuerst eine runterhauen sollte.
»Und wenn sie so rot anläuft«, fügte Anubis hinzu, als sei ich irgendein seltenes Exemplar.
»Putzig«, stimmte Walt zu.
»Und, hast du dich entschieden?«, fragte ihn Anubis. »Das ist unsere letzte Chance.«
»Ja. Ich kann sie nicht verlassen.«
Anubis nickte und drückte seine Schulter. »Ich auch nicht. Aber erst der Schatten, oder?«
Walt hustete, sein Gesicht verzog sich vor Schmerz. »Ja. Bevor es zu spät ist.«
Ich kann nicht behaupten, dass ich klar dachte, aber eine Sache war offensichtlich: Die beiden hatten hinter meinem Rücken viel mehr geredet, als mir bewusst gewesen war. Was um Himmels willen hatten sie einander über mich erzählt? Was machte es schon, wenn Apophis die Sonne verschluckte – das hier war mein absoluter Albtraum.
Wie konnte es sein, dass sie mich beide nicht verlassen wollten? Aus dem Munde eines sterbenden Jungen und des Totengottes klangen diese Worte ziemlich unheilvoll. Sie hatten irgendeine
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