Die Kane-Chroniken – Der Schatten der Schlange
den anderen um Hilfe rufen kann. Und –«
Ich legte meinen Finger auf seine Lippen. »Belassen wir es einfach bei: ›Das ist genial.‹«
Er nickte, dann gab er mir einen flüchtigen Kuss. »Viel Glück.«
Der dumme Kerl sollte so was bleiben lassen, wenn ich mich konzentrieren muss. Er sprintete gen Norden, nach einem Moment der Benommenheit rannte ich nach Süden.
Vollgematschte Springerstiefel sind nicht gerade optimal zum Schleichen.
Ich überlegte, ob ich in den Fluss waten sollte, weil das Wasser meine Spuren verwischen würde, aber ohne zu wissen, was unter der Oberfläche lauerte – Krokodile, Schlangen, böse Geister –, wollte ich lieber kein Bad nehmen. Carter hat mir mal erzählt, dass die meisten alten Ägypter nicht schwimmen konnten, was mir damals lächerlich vorgekommen war. Wie konnte es sein, dass Menschen, die an einem Fluss lebten, nicht schwimmen konnten? Jetzt verstand ich es. Niemand, der halbwegs bei Trost war, würde in dieses Wasser tauchen.
(Carter behauptet, ein Bad in der Themse oder dem East River sei genauso schädlich für die Gesundheit. Ja, schon richtig, gutes Argument. [Jetzt halt die Klappe, Bruderherz, und lass mich erzählen, wie die obergeniale Sadie die Situation gerettet hat.])
Ich rannte am Ufer entlang, raste durch das Schilf, sprang mit einem Satz über ein Krokodil, das sich sonnte. Ich wandte nicht mal den Kopf, um zu sehen, ob es mich verfolgte. Ich war gerade mit größeren Raubtieren beschäftigt.
Ich bin nicht sicher, wie lange ich rannte. Bestimmt viele Kilometer. Als das Ufer breiter wurde, hielt ich mich landeinwärts und möglichst im Schutz der Palmen. Es gab keine Anzeichen, dass ich verfolgt wurde, trotzdem hörte es zwischen meinen Schulterblättern, wo ich den Pfeil erwartete, gar nicht mehr auf zu jucken.
Ich stolperte über eine Lichtung, auf der ein paar alte Ägypter in Lendenschurzen neben einer kleinen schilfgedeckten Hütte über einem Feuer kochten. Vielleicht waren die Ägypter bloß Schatten aus der Vergangenheit, sie sahen allerdings ziemlich real aus. Sie wirkten verdutzt, dass ein blondes Mädchen im Kampfanzug durch ihr Lager rannte. Als sie meinen Zauberstab und das Zaubermesser sahen, fingen sie sofort an, vor mir zu Kreuze zu kriechen, senkten den Kopf auf die Erde und murmelten etwas mit Per Anch – Lebenshaus.
»Ähm, ja«, sagte ich. »Dienstliche Angelegenheit des Per Anch. Lasst euch nicht stören. Tschüs.«
Und weg war ich. Ob ich wohl irgendwann auf einer Tempelmauer auftauchen würde – ein blondes ägyptisches Mädchen mit lila Strähnchen, das sich seitwärts in die Palmen schlägt und »Huch!« in Hieroglyphen schreit, weil Neith ihr hinterherjagt? Als ich mir vorstellte, wie irgendein armer Archäologe das zu enträtseln versuchen würde, bekam ich schon fast bessere Laune.
Ich erreichte den Rand des Palmenhains und zögerte. Vor mir erstreckten sich bis in die Ferne gepflügte Felder. Weit und breit kein Versteck.
Ich drehte um.
KLACK!
Ein Pfeil traf die Palme neben mir mit solcher Wucht, dass mir die Datteln auf den Kopf hagelten.
Walt , dachte ich verzweifelt, jetzt, bitte .
Zwanzig Meter entfernt erhob sich Neith aus dem Gras. Sie hatte sich Flussschlamm ins Gesicht geschmiert. Aus ihrem Haar ragten Palmwedel, die an Bunny-Ohren erinnerten.
»Ich habe wilde Schweine gejagt, die mehr Geschick hatten als du«, maulte sie. »Selbst Papyruspflanzen mit mehr Geschick.«
Jetzt , Walt , dachte ich. Lieber, lieber Walt. Jetzt.
Neith schüttelte angewidert den Kopf. Sie spannte einen Pfeil ein. Ich fühlte ein Ziehen im Magen – als säße ich in einem Auto und der Fahrer träte unvermittelt die Bremse.
Plötzlich saß ich neben Walt auf einem Baum, auf dem untersten Ast eines großen Maulbeerfeigenbaums.
»Es hat funktioniert«, sagte er.
Wunderbarer Walt!
Ich küsste ihn ordentlich – oder eben so ordentlich, wie es unsere Situation zuließ. Er verströmte einen süßen Geruch, den ich zuvor noch nie wahrgenommen hatte, es roch, als hätte er Lotusblüten gegessen. Mir fiel dieser alte Kinderreim ein, bei dem zwei auf einem Baum sitzen und sich küssen und bei dem man immer die Namen des Pärchens einsetzt. Zum Glück würden alle, die mich aufziehen könnten, erst in fünftausend Jahren auf die Welt kommen.
Walt holte tief Luft. »Ist das ein Dankeschön?«
»Du siehst besser aus«, bemerkte ich. Seine Augen waren nicht mehr so gelb. Bewegungen schienen ihm nicht mehr so große Schmerzen
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