Die Kanonen von Navarone
das Seil mit dem Fuß wieder über die Kante, ließ sich in den Kamin hinabgleiten, band das untere Seil los und warf das Steigeisen, an dem es befestigt gewesen war, in die Dunkelheit hinaus. Kaum zehn Minuten später führte er, die gerollten nassen Seile über der Schulter, Miller und Brown in den dunklen Dschungel der Felsblöcke.
Sie fanden Stevens ungefähr hundert Meter landeinwärts, wo er im Windschutz vor einem Felsen auf einem kleinen, von Geröll freien Platz lag. Unter seinem Körper war ein Ölmantel auf den durchweichten Kiesboden gebreitet, zugedeckt war er bis zum Kopf mit einem Tarnumhang. Es war jetzt bitterkalt, doch der Felsen brach die Gewalt des Windes und schützte Stevens vor dem Schnee. Andrea blickte auf, als die drei in die flache Grube traten und ihr Gepäck ablegten. Er hatte, wie Mallory sah, schon Stevens die Hose bis übers Knie aufgerollt und den Bergstiefel von dem verstümmelten Bein geschnitten.
»Heiliger Himmel!« Fluch und Gebet zugleich, entfuhren Miller unwillkürlich diese Worte, denn sogar im nächtlichen Dunkel bot das zersplitterte Bein einen gräßlichen Anblick. Er ließ sich auf ein Knie nieder und bückte sich tief über den Bruch. »So eine Schweinerei!« murmelte er. »Wir müssen das Bein behandeln, Boß, und dafür ist wenig Zeit«, wandte er sich an Mallory. »Der Junge hat alle Anwartschaft aufs Leichenhaus.«
»Ich weiß. Wir müssen ihn retten, Dusty, wir müssen!« Auf einmal war das für Mallory schrecklich wichtig geworden. Er kniete auch neben Stevens. »Ich muß es mir ansehen.«
Ungeduldig winkte Miller ab. »Überlassen Sie das mir, Boß«, sagte er in so energischem Ton, daß Mallory schwieg. »Das Verbandszeug, schnell – schnüren Sie das Zeltbündel auf.«
»Können Sie das auch bestimmt allein?« Mallory zweifelte daran wahrhaftig nicht – er empfand nur Dankbarkeit und tiefe Erleichterung –, meinte aber, etwas sagen zu müssen. »Wie wollen Sie denn –?«
»Also, Boß«, erklärte Miller gelassen, »ich habe mich mein ganzes Leben mit dreierlei beschäftigt, nämlich mit Minen, Tunnels und Sprengstoffen, und das sind ja ziemlich heikle Sachen, Boß. Da habe ich Hunderte von gebrochenen Armen und Beinen gesehen – und die meisten habe ich selbst behandelt.« Er lächelte schief, was Mallory im Dunkeln nicht sah. »Damals war ich selber Boß. Besonderes Privileg wohl, das dazugehörte.«
»Na schön!« Mallory klopfte ihm auf die Schulter. »Sie sollen ihn allein haben, Dusty. Aber das Zelt?« Unwillkürlich blickte er über die Schulter in die Richtung zur Klippe. »Ich meine – sehen Sie sich das an.«
»Sie verstehen mich falsch, Boß.« Millers Hände, in jeder Bewegung ruhig und exakt, so feinfühlig und doch sicher nach vieljährigem Umgang mit hochempfindlichen Sprengstoffen, desinfizierten schon mit einem Tupfer die Wunde. »Ich hab' nicht die Absicht, hier ein Feldlazarett einzurichten, aber ich brauche die Zeltstangen, um das Bein einzuschienen.«
»Ach, natürlich, ja, die Stangen! Daß ich darauf gar nicht gekommen bin – dabei habe ich dauernd nur an Holz zum Schienen gedacht …«
»So wichtig sind die nun auch wieder nicht, Boß.« Miller hatte die Verbandspackung geöffnet und suchte mit Hilfe einer abgeblendeten Taschenlampe heraus, was er brauchte. »Morphium muß er gleich kriegen, sonst stirbt er uns noch durch Nervenschock. Und dann einen geschützten Platz, Wärme und trockene Kleidung –«
»Wärme! Trockene Kleidung!« unterbrach ihn Mallory ungläubig. Er blickte auf den bewußtlosen Stevens nieder und mußte daran denken, daß sie diesem jungen Mann den Verlust ihres Ofens samt Brennstoff zu verdanken hatten. Er verzog bitter den Mund. Sein eigener Henker. »Woher sollen wir das nehmen, um Gottes willen?«
»Das weiß ich nicht, Boß«, entgegnete Miller, »aber wir müssen's für ihn schaffen, sonst kriegt er Lungenentzündung, mit diesem Bein und bis auf die Haut durchnäßt. Und dann soviel Jodoform, wie in dieses verdammt große Loch im Bein 'reinpaßt – die geringste Sepsis, bei seinem Zustand könnte …« Seine Stimme verlor sich.
Mallory stand auf. »Na, dann sind Sie hier Boß«, sagte er, Millers breites Amerikanisch so gut nachahmend, daß der vor Erstaunen ein mattes Lächeln zustande brachte. Mallory konnte hören, wie seine Zähne klapperten, als er sich über Stevens beugte, und fühlte mehr als er sah, daß er fortwährend heftig zitterte, aber, ganz auf seine Tätigkeit
Weitere Kostenlose Bücher