Die Kanonen von Navarone
was er da entdeckt hatte: die tiefe Einkerbung von ihrem Kletterseil, das sie, an einem Felsblock verankert, über den Rand hinabgehängt hatten …
Lautlos erhoben sich Mallory und seine drei Begleiter auf die Knie, jeder brachte über den nächsten Felsblock hinweg oder in einer Spalte zwischen zweien seine Schußwaffe in Anschlag. Keiner von ihnen bezweifelte, daß Stevens hilflos unten in der Enge des Kamins lag, schwerverletzt oder tot. Wenn jetzt einer der Deutschen nur den Karabiner über den Rand nach unten anlegte – selbst wenn er noch nichts entdeckt hatte –, dann mußten diese vier Mann sterben. Es gab keine Wahl.
Der Feldwebel hatte sich lang ausgestreckt, von zwei Mann an den Beinen gehalten. Kopf und Schultern über den Klippenrand vorgeschoben, ließ er den Strahl seiner Taschenlampe in den Kamin hinableuchten. Zehn bis fünfzehn Sekunden lang war auf der Klippe kein anderes Geräusch zu vernehmen als das laute Wehklagen des Windes und das Wischen des Regens in dem kurzen Gras. Und dann war der Feldwebel wieder zurückgerutscht, hatte sich erhoben und schüttelte langsam den Kopf. Mallory gab den andern einen Wink, sich wieder hinter ihre Felsen zu kauern, doch sie hörten auch da ganz deutlich die in weichem Bayrisch gesprochenen Worte des Feldwebels, die der Wind ihnen zutrug.
»Es ist tatsächlich Erich, der arme Kerl.« Zorn und Mitleid gaben seiner Stimme einen merkwürdigen Klang. »Ich habe ihn oft genug gewarnt, er sollte nicht so leichtsinnig sein und hier nicht so dicht an den Rand gehen. Die Klippe ist sehr tückisch.« Instinktiv trat der Feldwebel ein Stück zurück und betrachtete wieder die Kerbe in dem weichen Boden. »Da seht ihr ja, wo er mit dem Hacken ausgerutscht ist oder mit dem Karabinerkolben. Ist ja egal, wie.«
»Meinen Sie, daß er tot ist, Feldwebel?« Der Fragende mußte sehr jung sein, er sprach nervös und gequält.
»Ist schwer zu sagen … Sehen Sie mal selbst nach.«
Behutsam legte sich der junge Soldat hin und lugte vorsichtig über die Kante. Während die anderen drei sich in kurzen, abgehackten Sätzen unterhielten, flüsterte Mallory, der das Rätsel aufklären mußte, das ihn beschäftigte, zwischen den vorgehaltenen Händen Miller ins Ohr: »Trug Stevens seinen schwarzen Anzug, als Sie ihn unten verließen?«
»Ja«, gab Miller leise zurück. »Ja, ich glaube wohl.« Und nach kurzem Schweigen: »Nein, verdammt, ich hab' mich geirrt, wir hatten ja beide fast zu gleicher Zeit unsere Tarnmäntel umgelegt.«
Mallory nickte. Die wasserdichten Umhänge der Deutschen sahen fast genauso aus wie ihre eigenen, und der Posten hatte, erinnerte er sich, rabenschwarzes Haar gehabt, ebenso dunkel wie Stevens' gefärbtes. Wahrscheinlich war von oben nichts weiter zu erkennen als eine verkrümmte Gestalt unter dem Umhang und ein dunkler Kopf, und daher der Irrtum des Feldwebels vollkommen erklärlich.
Der junge Soldat hatte sich inzwischen zurückgeschoben und vorsichtig wieder aufgerichtet. »Sie haben recht, Feldwebel, es ist tatsächlich Erich.« Er sprach unsicher. »Aber ich glaube, er lebt noch. Ich hab' eben gesehen, wie sein Umhang sich bewegte, ganz wenig nur, und das war bestimmt nicht vom Wind.«
Mallory fühlte Andreas große Hand, die seinen Arm drückte, und wie eine Welle der Erleichterung und der Freude rann es durch seinen Körper. Also lebte Stevens! Gott sei Dank! Dann würden sie ihn ja noch retten … Er hörte, wie Andrea das den andern zuraunte, und nun lächelte er ironisch über sich selbst. Wie konnte er jetzt Freude empfinden! Das hätte Jensen bestimmt mißbilligt. Stevens hatte seine Rolle schon gespielt: er hatte das Boot nach Navarone geführt und die Klippe erstiegen, aber jetzt, als Krüppel, war er nur noch eine Last, ein Hemmnis für sie alle, das die lächerlich kleine Chance, die ihnen blieb, noch verringerte. Für ein Oberkommando, das im Schach des Krieges die Figuren setzt, störten verkrüppelte Pfänder die schöne Ordnung auf dem Brett und verzögerten das Spiel. Recht rücksichtslos eigentlich von Stevens, daß er nicht zu Tode gestürzt war, denn dann hätten sie sich seiner ganz entledigen können und keine Spur wäre zurückgeblieben, wenn er in der Tiefe des Meeres verschwand, das gierig um den Fuß der Klippe brandete … Mallory ballte in der Finsternis die Fäuste und schwor sich, Stevens zu retten und ihn wieder heimzubringen, und dieser verfluchte Krieg mit seinen unmenschlichen Forderungen konnte ihm
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