Die Kanzlerin - Roman
war nicht da. Haxer hatte sie angeblich heute noch gar nicht gesehen, und bei der Pforte wurde das bestätigt. Die Kanzlerin nahm den Hörer und rief bei ihr zu Hause an. Aber sie meldete sich nicht. Seltsam, dachte die Kanzlerin und verschränkte die Arme auf dem Rücken, dann durchquerte sie dreimal den Raum. Es war etwas passiert, das spürte sie und ordnete an, dass die nächstpostierte Streife bei Frau Heidenreich nachschaute.
Der in seinem Vorwärtsspringen abrupt gestoppte Sekundenzeiger starrte sie an. Es war unerträglich. Die Kanzlerin nahm die Uhr in die Hand und drehte den Minutenzeiger ein paar Zentimeter nach vorn. Und tatsächlich schaffte der Sekundenzeiger danach noch einmal zwei Sekunden. Sie stellte die Uhr auf den Tisch und verschränkte noch einmal die Arme hinter dem Rücken.
Frau Napoleon, dachte sie, die Schlachten sind noch lange nicht geschlagen. Warum meldete sich die Pforte nicht? Sie setzte sich, und ihr Handy zwitscherte. Mozart. Er hatte also auch ihre neue Nummer.
»Frau Kanzlerin, das Orchester übt. Generalprobe in ein paar Tagen.«
»Herr Mozart, geben Sie sich zu erkennen. Melden Sie sich. Sagen Sie den dafür zuständigen Stellen, was Sie vermeintlichmitzuteilen haben. Und wenn Sie auch nur das geringste Musikgehör haben, dann tun Sie, was ich Ihnen rate.«
»Ich riskiere mein Leben für Sie.«
»Sie riskieren Ärger, der sehr viel grösser sein wird, als Sie offenbar erwarten.«
»Das Orchester ist ein wilder Haufen. Aber der Dirigent hat die Truppe im Griff.«
»Wie heisst das Orchester?«
»C & C.«
»Ein global verständlicher Firmenname.«
»Von der Firma sind auch ein, zwei Leute dabei.«
»Sie meinen von der Stasi?«
»Und solche, die sich aufgeRAFt haben.«
»Rote-Armee-Fraktion? Da kann ich nur vermuten, dass auch Islamisten mitmusizieren.«
»Nein«, schrieb Mozart.
»Der russische Geheimdienst?«
»Vielleicht, aber am gefährlichsten sind die Verrückten.«
»Und welcher Typus sind Sie, Herr Mozart? Wo wird geprobt?«
»Im Netz. Aber die Verschlüsselung ist nicht zu knacken.«
»Weil die Bösen besser sind?«
»Weil es keine Guten gibt. Behalten Sie die Guten gut im Auge.«
Die Kanzlerin schaltete ihr Handy aus, verschränkte die Arme und ging ein paar Schritte. Dann stoppte sie ein Anruf, und sie blieb stehen wie der Sekundenzeiger. Sie hörte das Klingeln und nahm den Hörer nicht ab. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Sie war erstarrt. Sie liess es klingeln, bis es nicht mehr klingelte, und stand mitten im Raum. Sie wollte die Arme entflechten, aber sie blieben verschlossen. Und die Kanzlerin sah, wie die Tränen auf den Fussboden tropften. Als sie ein Taschentuch aus ihrer Tasche nahm, da wusste sie, dass die Zeit nicht mehr stillstand.
Pierre Haxer stand hinter ihr und sagte: »Bitte setzen Sie sich, Frau Kanzlerin. Man hat Frau Heidenreich tot in ihrer Wohnung aufgefunden.«
Die Kanzlerin schwieg.
»Die Todesursache ist noch unklar. Herzversagen, Suizid …«
»Frau Heidenreich hat gern gelebt.«
»Diesen Eindruck hatte ich auch, und trotzdem …«
»Meine Tischuhr ist stehengeblieben, Herr Kanzleramtschef. In der Schublade von Frau Heidenreich … in einer der Schubladen hat sie die passenden Batterien dafür. Es wäre also sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie …«
»Gern«, sagte Haxer und stand auf, unschlüssig.
Auch die Kanzlerin stand auf, und nun standen sie da, und sie sagte: »Und dann steht man einfach nur so da.«
»Keine gute Zeit«, sagte Haxer und schaute sie an. »Ich habe eine totale Informationssperre angeordnet«, fügte er hinzu, und die Kanzlerin nickte mit Augen, deren Lider geschwollen waren. Sie konnte nicht mehr blinzeln, und sie konnte die Augen nicht mehr schliessen. Sie atmete tief ein und hörte, wie die Luft ausströmte, bis sich ihre Lunge entleert hatte. Aber sie hatte kein Bedürfnis nach neuem Sauerstoff. Sie hielt die Luft nicht an, sondern die Luft bewegte sich einfach nicht. Bis Haxer ihr zwei Batterien auf den Tisch legte und fragte: »Soll ich sie einsetzen?«
Sie öffnete ein Fenster. »Die Herren Brack und Birnbaum warten draussen, vermute ich mal. Aber ich brauche noch ein paar Minuten, Herr Haxer. Wenn Sie das bitte ausrichten würden.«
Dann wurde Putin zu ihr durchgestellt.
»Wladimir, ich hoffe, es geht Ihnen gut, bei allen Kämpfen, die Sie auszufechten haben, was ich durchaus verstehen kann. Wobei, andererseits, wenn es einen trifft, dann nie da, wo man es erwartet
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