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Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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daran nicht. Und er hatte auch nie daran gedacht, das, was Frau Male ihm schrieb, abzuspeichern.
    Sie war eine Gegenwart und machte ihn gegenwärtig.
    Loderer schaute auf die Uhr. Eine Stunde war vergangen. Es gab kein grösseres Glück für ihn, als die Zeit zu vergessen. Und nur wenn er die Zeit vergass, konnte er loslassen, den Griff lockern, mit dem er sich die Kehle zuschnürte. Dann war jeder Atemzug nur wichtig, damit der nächste überhaupt möglich war, aber nicht um dem Leben einen Atem zu geben. Den Griff lockern, mit dem er sich die Nase zudrückte und damit das Leben geruchlos machte.
    Das musste er ihr sagen. Er musste ihr sagen, dass sie für ihn nur eine Ablenkung war. Sonst war das nicht ehrlich, und dieses Versprechen, das hatten sie sich gegeben.
    »Frau Male, es fällt mir offenbar doch schwer, ehrlich zu sein. Schwerer, als ich gedacht habe. Weil ich dir schon lange hätte schreiben müssen, dass du für mich eine Ablenkung bist. Dass es dich gibt, weil alles, was ich seit über einem Jahr mache, nur Ablenkung ist. Damit ich es aushalte. Damit ich nicht zerbreche.Du bist also nicht ›nur‹ eine Ablenkung, Jenny. Ich hätte ohne dich vielleicht nicht überlebt. Aber du musst sagen, ob du meine Ablenkung sein willst. Es bedeutet viel für mich und macht so wenig aus dir.«
    Dann sah Loderer ihre Mail mit Anhang. Er öffnete das Foto nicht. Er würde es später anschauen. Erregt, schon wieder.
    Loderer zog den Nierengürtel an, schlüpfte in die Lederjacke, nahm seine Handschuhe und fuhr mit dem Roller zur Post. Sein Schwanz schmerzte vor Lust, als er sich in die Schlange einreihte und im Stehen den Betrag einsetzte: 111, ihre Lieblingszahl.
    Als Loderer am Schalter drei Fünfziger auf die Theke legte und die Postfrau den Betrag der Überweisung in die Kasse tippte und ihn fragte: »Möchten Sie eine Quittung?« – da platzte er fast und sagte: »Ja.« Er hatte sie bezahlt. Sie hatte sich bezahlen lassen.
    Loderer fühlte sich gut. Er war frei. Den Gedanken, dass sie ihn nicht nach seinem Foto gefragt hatte, verdrängte er sofort. Weil er sich gut und frei fühlen wollte. Er sass auf dem Roller und gab Gas.
    »Hürchen, habe einbezahlt. Nuttengeld.«
    Sie arbeitete am Patienten.
    Loderer fühlte sich hochtourig. Aber die Nervosität im Bundespresseamt machte seine Stimmung kaputt. Die Affäre mit den beiden Personenschützern hatte die ganze Atmosphäre vergiftet und zu künstlicher Betriebsamkeit geführt, der sich auch Loderer nicht entziehen konnte. Eine Message von Bossdorf: »Kollege Loderer, schauen Sie bei mir rein, wenn Sie einmal kurz Zeit haben?«

» I n was für einer Zeit leben wir eigentlich, Herr Kranich?«
    »In einer Zeit, in der immer mehr Hunde, die bellen, auch beissen«, sagte Kranich spontan, und die Kanzlerin lachte.
    »Endlich«, sagte sie, »schliesslich haben die Katzen immer schon gekratzt, auch wenn sie geschnurrt haben.«
    »Eine gefährliche Zeit«, sagte Kranich.
    »So sehe ich das auch, möchte dafür von Ihnen aber eine Erklärung haben.«
    »Es gibt zu viele Gesichtsattrappen, zu viele Gesichtsbaustellen. Die Gesellschaft hat kein Antlitz mehr.«
    »Ihre Ausdrucksweise mutet heute doch eher seltsam an, Herr Kranich.«
    »Die meisten Menschen arbeiten nicht mehr, sie robotern«, sagte er. »Sie rüsseln sich weg und pofen und sind nicht mehr ansprechbar.«
    »Was heisst pofen? Herr Kranich, reden Sie obszön mit mir?«
    »Schlafen.«
    »Haben Sie schlecht geschlafen, Kranich? Oder sind Sie betrunken?«
    »Habe abgeschädelt gestern, ja, wie alle Besoffenen.«
    »Passt«, sagte die Kanzlerin. »Und wo findet man solche Worte?«
    »Ich bin Aktivmitglied bei sprachnudel.info «, sagte er. »Etwas für Cracks, Geeks, Homies – so redet die Lifestyleszene.«
    »Herr Kranich, Sie sind aufgedreht. Und machen auf mich einen nervösen, wenn nicht gar aufgebrachten Eindruck.«
    »Das Volk ist aufgebracht, der Normalbürger ist aufgebracht, Frau Kanzlerin. Aber das Volk ist nicht verstummt. Es hat ihm nur vorübergehend die Sprache verschlagen. Aber es sucht neue Worte. Wollen Sie wissen, welche Synonyme die Sprachnudler für ›Frau‹ kreiert haben, Frau Kanzlerin?«
    »Ich glaube nicht, Herr Kranich, dass ich das wissen möchte.«
    »Frauen sind Schnitten, Grotten, Fritten …«
    »Herr Kranich …«
    »Eine Sumpfhuhntruppe, ein Handtaschengeschwader …«
    »Haben Sie Pillen geschluckt, Kranich, oder andersrum: Haben Sie Ihre Pillen nicht genommen?«
    »Schon bald

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