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Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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mich, steigen Sie ein. Und?«
    »Und was?«, fragte Kranich.
    »Haben Sie gut geschlafen?«
    Er sagte ja, obwohl er miserabel geschlafen hatte, geplagt von Träumen, die so anstrengend waren, dass er um 5 Uhr morgens aufstand, sich Kaffee machte, sich an den Tisch setzte, aus dem Fenster schaute, etwas surfte – und noch einen Kaffee trank. Er war froh, dass er jetzt nicht mehr an sich selber denken musste, und sagte: »Und Sie?«
    »Ungute Träume«, sagte sie und schwieg, bis zur Hasenheide.

    »Herr Kranich, der Park ist fast menschenleer. Können Sie mir sagen, wo das Volk ist in diesem Volkspark? Niemand da, der einen Apfel isst oder schmust auf einer Bank oder joggt wie unser Joschka selig. Keine jungen, keine alten, keine weissen und auch keine schwarzen Menschen: ich kann also im Moment wederlegale noch illegale Aktivitäten erkennen, zu denen Sie mir noch etwas sagen wollten.«
    »Es ist zu früh«, sagte Kranich. »Vor 10 Uhr läuft hier nichts. Die Leute schlafen.«
    »Und ich dachte, eine Metropole wie Berlin schläft nie«, sagte die Kanzlerin und versank wieder in ein Schweigen, das Kranich kannte.
    Sie gingen sehr langsam, und weil sie seine Gedanken erraten konnte, sagte sie: »Üblicherweise pflege ich eine schnellere Gangart, wenn ich spaziere, und das vorläufig sogar noch ohne Stock. Und die Stöcke dieser Stalker oder Walker finde ich sowieso lächerlich.«
    Kranich schaute sich um. Keine Personenschützer zu sehen.
    »Ich habe ungute Gefühle, Kranich. Und ich weiss nicht, warum. Ich habe einfach ungute Gefühle.«
    »Was haben Sie geträumt, Frau Kanzlerin?«
    Sie schwieg.
    »Ist Ihnen diese Frage zu intim?«
    »Grundsätzlich, Herr Kranich, möchte ich es so halten, wie wir das immer tun: Ich plaudere mit mir selbst, und Sie hören mir zu. Und wenn Sie mir – ich schweife manchmal aus – nicht zuhören mögen, dann machen Sie das bitte auf eine so unauffällige Weise, dass es mir nicht unangenehm auffällt. Wissen Sie, warum ich gerne monologisiere?«
    Kranich schüttelte den Kopf.
    »Es gibt ja einige Kolleginnen und Kollegen, die meinen, ich ertrüge keinen Widerspruch. Aber das ist es nicht. Sondern im Gegenteil hasse ich es, angelogen zu werden. Und solange ich nur mich selbst reden höre, würde ich es hoffentlich merken, wenn ich mir ein X für ein U vormachte. Im Übrigen, kennen Sie Klabund, Herr Kranich?«
    Er spürte ihren Blick und schüttelte den Kopf.
    »Hermann Hesse – ich nehme jetzt einfach einmal an, dass ein esoterischer Schweizer wie Sie Hesse kennt – hat über Klabund einmal gesagt, das sei ein Schriftsteller wie eine Windharfe. Jeder Klang erscheine alt und oft gehört und klinge doch neu und berückend. Allein schon das Wort Windharfe stimmt mich poetisch. Und wie schade ist es doch, dass wir alle nur noch das Bedrückende kennen, und Berückendes gibt es nicht mehr, weil man das Wort vergessen hat.«
    »Was hat Klabund denn geschrieben?«, fragte Kranich.
    »Zum Beispiel Bracke. Ein Eulenspiegel-Roman, Herr Kranich. Und Eulenspiegel war bei uns in der DDR sehr beliebt. Sie kennen ihn nicht, den Eulenspiegel?«
    Und wieder spürte Kranich den Blick der Kanzlerin, die stehengeblieben war und ihm direkt in die Augen schaute.
    »Ein Schalk. Ein Spassmacher.«
    »Ein Narr war er nicht, Herr Kranich. Eulenspiegel war alles andere als ein Narr. Obwohl es der DDR gut angestanden hätte, sich einen Eulenspiegel als Hofnarren zu halten. Es wäre womöglich manches ganz anders gekommen. Wir Ossis mochten Streiche, Herr Kranich. Und idealerweise machte ein lustiger Streich einigen weniger lustigen Leuten einen Strich durch die Rechnung.«
    Sie gingen und schwiegen. Bis die Kanzlerin plötzlich lachte: »Jetzt weiss ich wieder, warum ich an Klabund gedacht habe. Er hat einmal geschrieben: Ich höre mich gern reden – es ist so unterhaltend, sich zuzuhören. «
    »Dann will ich nicht stören bei dieser Unterhaltung«, sagte Kranich, die Kanzlerin schwieg und setzte sich dann auf eine Bank. Er setzte sich neben sie und fragte nach ein paar Minuten: »Was denken Sie?«
    »In meiner Position, Herr Kranich, geht es weniger darum, was ich denke, sondern vielmehr darum, dass ich mir überlege, was andere sich denken. Weil: Die Hölle, das sind die anderen. «
    »Sartre«, sagte Kranich.
    »Wusste ich doch, dass Sie den kennen. Als Existentialist. Und das sind Sie doch, Herr Kranich, das müssen Sie ja sein in Ihrer Situation. Ohne Sie jetzt beleidigen zu wollen: Der

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