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Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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blieb stehen. »Herr Kranich, ich habe einfach ungute Gefühle, und meine Träume sagen mir, dass es dazu einen Grund gibt, auch wenn ich den noch nicht kenne.«
    »Was haben Sie geträumt, Frau Kanzlerin?«
    »Ich finde es zum Beispiel höchst ungut, um nicht zu sagen anormal, dass ich von meinem Fraktionschef träume. Von Zwicker. Herr Kranich, ich lege mich, nichtsahnend, ins Bett, und plötzlich taucht dieser Zwicker auf. Was sagen Sie dazu?«
    »Die Politik lässt Sie nicht los.«
    »Quatsch.«
    »Hat Zwicker Sie belästigt?«
    »Schlimmer, Herr Kranich, denn wäre er nur eine Belästigung gewesen, dann hätte ich diesen Traum längst abgeschüttelt.« Sie schwieg. »Alle lügen, in der Politik«, fuhr sie fort. »Keiner sagt, was er denkt und wie es ist, und das Üble daran ist, dass die meisten auch gar nicht sagen könnten, was ist. Weil sie sich gar nichtviel gedacht haben, nichts, was man sich merken müsste. Es ist zum Kotzen.«
    »Wer hat Sie angelogen, Frau Kanzlerin?«
    »Eisele war’s nicht. Der lügt nicht. Und Schiller lügt auch nicht. Es gibt Ausnahmen.«
    »Lügt Zwicker?«
    »Herr Kranich, ob Zwicker so einer ist, weiss ich nicht. Aber es ist schon eine Frechheit, dass so ein Mensch sich nachts auch noch in mein Bett schleicht. Herr Kranich, dieser Herr Zwicker hat mich sogar im Traum angelogen! Das muss man sich einmal vor Augen halten!«
    Noch ein paar Schritte bis zum Wagen.
    »Herr Kranich, die Vermutung liegt nahe, dass auch Sie mich belügen.«
    »Diese Unterstellung verbitte ich mir, Frau Kanzlerin.«
    »Sie sind ein Junkie, Kranich. Und wer Stoff braucht, verkauft auch seine Kanzlerin, notfalls.«
    »So lasse ich mit mir nicht reden, nicht in diesem Ton.«
    »Dann sei es, meinetwegen, im hohen C gesagt, Herr Kranich: Sie gehören dazu. Und wenn Sie Abbittgesänge singen wollen, dann ziehen Sie dabei bitte in Betracht, dass dort oben« – die Kanzlerin zeigte ins Himmelreich – »vielleicht gar keiner zuhört. Hingegen ich würde Ihnen zuhören, Herr Kranich, wenn Sie mir jetzt etwas zu sagen haben.«
    Kranich schwieg und schämte sich.
    Die Kanzlerin stemmte die Arme in die Hüften. »Herr Kranich, ich bin die mächtigste Frau der Welt. Muss ich mich nun vor mir selbst fürchten?«
    »Vor wem sonst?«, fragte er.
    »Einmal angenommen, Herr Kranich, Sie wären der mächtigste Mann der Welt, was würden Sie dann denken?«
    »Wie es dazu kommen konnte, dass dieser Mann pleite ist.«
    Die Kanzlerin liess die Arme absacken und stemmte sie dann wieder in die Hüften. »Sie haben sich also nicht saniert, wie versprochen. Sie sind im Minus und fühlen sich als Minus.«
    »Durchaus«, sagte Kranich, »ich selbst würde mich durchaus als Minuszeichen sehen.«
    Vermutlich machte er einen jämmerlichen Eindruck, und sie fragte: »Brauchen Sie dringend Geld, Johannes?«
    Er nickte.
    »In der Schweiz brauchen Sie das nicht. Sie begleiten mich, auf Staatskosten. Und im Übrigen hat die neue Büroleiterin, deren Namen ich mir nicht merken will, eine Anweisung von mir erhalten. Sie können dort Gehaltsvorschuss abholen. Aber, Herr Kranich, das ändert leider nichts daran, dass ich immer noch ungute Gefühle habe. Kennen Sie die Ballade vom toten Kind? «
    Kranich schüttelte den Kopf.
    »Ich stehe an der Leiter, / Die in die Grube führt. / Und reich der Erde weiter / Das Herz, das ihr gebührt.«
    »Ein trauriges Gedicht«, sagte Kranich.
    »In meinem Traum hat es einen Unfall gegeben, Herr Kranich. Einen kleinen Unfall. Und ich wollte sehen, was passiert ist. Und sah einen Radfahrer, der gestürzt war und sich am Bein verletzt hatte. Nichts Schlimmes. Aber als ich weiterging, war die Strasse plötzlich übersät mit Leichen, mit verstümmelten Menschen, ein Massaker. Und ich dachte: Da will ich nicht hinsehen. Wenn ich das sehe, dann werde ich diese Bilder nie mehr los. Aber ich stand mittendrin. Ich wollte gehen. Und ich ging, ganz langsam. Weil ich bei jedem Schritt darauf achtete, auf keinen Menschen zu treten, auf keine Gliedmassen, in keine Blutlache. Ich suchte einen sauberen Weg, Herr Kranich. Aber diesen Weg gab es nicht.«

    Später wollte sie etwas über den Kanton Appenzell Ausserrhoden erfahren.

D ie Appenzeller hätten den Ruf, eher kleinwüchsig zu sein, aber das, so Kranich, habe sich verändert. Im Laufe der letzten Jahrzehnte seien die Appenzeller immer grösser geworden, ein Phänomen, das weltweit nicht erklärt werden könne. »Die Schweiz hat 26 Kantone«, fuhr er fort, »und

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