Die Kanzlerin - Roman
Appenzell Ausserrhoden ist ein Halbkanton. 52 000 Einwohner und damit grösser als der Kanton Appenzell Innerrhoden, der kleinste Schweizer Kanton. 26 Kantone, und Appenzell Ausserrhoden steht auf dem 21. Platz. Da will man sich nicht kleiner machen, als man ist, und vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum es nie ernsthafte Überlegungen gab, zwei zusätzliche Kantonsteile zu schaffen, den Kanton etwa zu vierteilen und noch einen Kanton Appenzell Oberrhoden zu gründen und einen Kanton Appenzell Unterrhoden.« Weil die Kanzlerin diese Bemerkung nicht witzig fand, fuhr Kranich sachlich weiter: »Der Kanton Appenzell Ausserrhoden hat im Gegensatz zu allen anderen Schweizer Kantonen keinen offiziellen Hauptort, was nichts mit seiner Grösse zu tun hat, sondern mit der uralten Geschichte dieses Kantons, der 1513 der Eidgenossenschaft beitrat.«
»Und warum hat der Kanton keinen Hauptort?«
»Weil der Kanton Appenzell Ausserrhoden zwei Hauptorte hat: Herisau, der Sitz von Regierung und Parlament, und Trogen, die Gerichts- und Polizeihauptstadt.«
»Erstaunlich«, wunderte sich die Kanzlerin, »dass es in der Schweiz einen Kanton gibt mit einer Polizeihauptstadt.«
Im Übrigen werde der Kanton Appenzell Ausserrhoden fast erwürgt. Und zwar vom Kanton St. Gallen, sagte Kranich, der die beiden Halbkantone eng umschlinge, was unter anderem dazu geführt habe, dass immer mehr Appenzeller Jugendliche St. Galler Dialekt sprächen. Jammerschade, weil das Urchige verlorengehe.
»Was heisst urchig?«, wollte die Kanzlerin wissen.
»Bodenständig«, sagte Kranich. »Eigenständig. Unverwechselbar. Einmalig.« Und dass es gut sei, dass die Ausserrhoder jetzt zumindest einen Bundesrat hätten, der noch appenzellern könne, den Finanzminister.
Wenn er, wie Kiki Ritz, nur von Zahlen rede, dann werde sie ihn sicher verstehen, sagte die Kanzlerin und fragte: »Wer regiert den Kanton?«
»Die Liberalen dominieren, aber die Blocher-Leute sind stärker geworden, und es gibt auch einen Sozialdemokraten.«
»Und keine Christen, in diesem Appenzell?«, fragte die Kanzlerin.
»Die allermeisten sind evangelisch«, sagte Kranich, »reformiert.«
»Sind Sie ein gläubiger Mensch, Herr Kranich?«
Die Frage überraschte ihn, und noch überraschender für ihn war es, dass er spontan ja gesagt und gleich angefügt hatte, dass er an die Menschen glaube. Weil die Menschen darauf angewiesen seien, dass man an sie glaube. Und weil Menschen gefährlich würden, wenn man nicht mehr an sie glaube. Weil sie sich dann verloren fühlten. »Solch verlorene Menschen werden zu Hassenden«, sagte Kranich. »Wenn Menschen das Gefühl haben, sie könnten, anstatt da zu sein, genauso gut woanders sein oder gar nicht mehr da sein, gehen diese Menschen verloren. Und wenn der Hass dann ausbricht, dann weiss niemand, woher er kommt.«
»Ein bisschen pathetisch, Herr Kranich, aber eigentlich möchte ich lieber – und zwar exakt – wissen, seit wann die Appenzeller Frauen das Stimm- und Wahlrecht haben.«
»Seit 1971 auf Bundesebene«, sagte Kranich, »seit 1989 auf kantonaler Ebene.«
»Da hat die Schweiz ja im Jahr des Mauerfalls auch eine kleine Hürde genommen«, sagte sie und erkundigte sich nach dem Finanzminister.
Furztrocken, wollte Kranich sagen, dachte dann aber noch einmal nach und erwiderte: »Sachlich, gross, mager, kompetent, kein Sprücheklopfer und kein Ideologe.«
D ie viel zu grosse und viel zu dünne Dame hatte Jodlers Dokumente geprüft, die auf den Namen Hodler lauteten, und tatsächlich machte die viel zu grosse und viel zu dünne Dame am Schalter der grossen Versicherungsgesellschaft eine entsprechende Bemerkung: »Aber Kunstmaler sind Sie nicht, zufälligerweise?«
Jodler war ein wortkarger Mensch und kommentierte diese Bemerkung nicht. Wortlos unterzeichnete er den Mietvertrag für drei Monate, bezahlte, packte die drei Schlüssel, die ihm die Dame aushändigte, und erst in diesem Augenblick schaute er ihr direkt ins Gesicht. Sie hatte ihn angelächelt, und Jodler fand, dass sie eigentlich gar nicht so gross und so dünn war. Er kannte seine Wirkung auf Frauen. Er war ein praktischer Mensch und sah so praktisch aus, dass die Frauen mit ihm sofort zu IKEA gehen wollten. »Danke«, sagte Jodler. Schon unter der Tür, drehte er sich noch einmal um und fragte: »Gehen Sie mit mir nächste Woche zu IKEA? Ich muss meine Wohnung einrichten. Und könnte eine Frau mit Geschmack brauchen, die mir dabei hilft.«
»Gern«,
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