Die Kanzlerin - Roman
Pathos, keine Leerformeln. Schreiben Sie persönlich, und bleiben Sie bescheiden. LG, Eisele.«
Es war, als ob sein Gehirn auf diesen Knopfdruck gewartet hätte: Zeile um Zeile schoss in seinen Kopf und überflutete ihn mit der Farbenpracht der bösen Blumen: O Schmerz! die Zeit trinkt unsren Lebenssaft, / Der dunkle Feind, der uns am Herzen zehrt / Und sich von unsrem Blute stärkt und mehrt!
Aber er durfte jetzt nicht nachdenken. Er musste schreiben, und Loderer wollte etwas sagen, weil ihn die Last erdrückte, an die er nicht denken durfte, weil er schreiben musste, weil er eine Blume des Guten in die böse Farbenpracht säen wollte, eine Blume der Reinheit, die er in sich spürte und blühen sah, wie vom Unkraut befreit.
»Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, als heute Morgen in den Schweizer Alpen dieSonne aufging, da ging sie für 25 Menschen, die sie auf ihrer Fahrt zum Säntis sehen wollten, zum letzten Mal auf. Menschenverachtende Terroristen haben ihre Sonne ausgelöscht. Deutschland schweigt und steht auf. Deutschland erhebt sich und verneigt sich vor den Toten, deren Namen ich jetzt nenne, in alphabetischer Reihenfolge, also ohne Rang und Ansehen der Person, im Angesichte Gottes: … Lothar Engel … Valentin Hendricks, Amelie Merrit Kranz … Kirk Ritz …«
»Sehr geehrter Herr Minister, bitte faxen Sie mir die Liste mit den Namen der Toten. LG, Loderer.«
Es wäre ein möglicher Anfang, und Benedikt Eisele könnte im Anschluss daran zwei Verszeilen von Baudelaire zitieren: Sommer war gestern, Herbst ist heut gekommen, / Und Abschied heisst der rätselhafte Laut.
»Verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger, das sind Gedichtzeilen des französischen Dichters Charles Baudelaire, der Les Fleurs du mal geschrieben hat: Die Blumen des Bösen. Er hat gewusst, dass das Böse nicht nur schwarz ist, sondern alle Farben hat. Aber wenn es uns trifft, dann ist Der Himmel, schwer wie eines Deckels Last, schrieb er in seinem Gedicht Schwermut : ein Himmel Sinkt auf die Seele voll verhaltenem Weinen, / Bleiern und dumpf hält er das All umfasst, / Trüber als Nacht will uns der Tag erscheinen. / Es wandelt sich die Welt zum finstern Haus, / Zum feuchten Kerker voller Angst und Schauer, / Und flatternd, scheu wie eine Fledermaus / Rennt Hoffnung sinnlos gegen Wand und Mauer. Das Gedicht endet mit den Versen: Und lautlos zieht ein langer Leichenzug / Durch meine Seele seine schwarzen Bahnen, / Die Hoffnung weint. Das Grauen, das sie schlug, / Das Grauen pflanzt in meinem Hirn die Fahnen.
Aber, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute ist nicht derMoment der Abrechnung, sondern des Abschieds. Heute ist nicht die Stunde der Rache, und, wenn ich das beifügen darf: Es darf in einem demokratischen Staat auch keine Stunde der Rache geben, so hoffnungslos wir uns auch fühlen, erfasst vom Grauen. Baudelaire hat darüber in seinem Gedicht Die Liebe und der Schädel geschrieben – einige Verszeilen sind mir in Erinnerung geblieben: Dies Spiel voll Grausamkeit und Hohn, / Wird’s nie zu Ende gehen? … Das, Mörder, das war meine Kraft, / Mein Hirn, mein Blut, mein Leben.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, unbekannte Täter, Mörder, Terroristen, haben heute Morgen für 25 Menschen die Sonne ausgelöscht: ein Akt von unvorstellbarer Grausamkeit, von langer Hand geplant und erbarmungslos durchgeführt. Wir kennen sie noch nicht, diese Terroristen, und auch nicht ihre Motive. Aber ich, wir, das deutsche Volk sagen diesen Verbrechern: Das, Mörder, das war unsere Kraft, unser Hirn, unser Blut, unser Leben.
Und so will ich Ihnen, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, eines versprechen: Wir werden diesen Mördern das Handwerk legen. Wir werden sie fassen und aburteilen für eine Tat, die so schrecklich wie sinnlos war und für die es keine Rechtfertigung gibt. Das verspreche ich Ihnen. Deutschland, auch Deutschland hat dem internationalen Terror den Krieg erklärt, und als Innenminister habe ich immer wieder darauf hingewiesen, dass es keine absolute Sicherheit geben kann. Aber es gilt auch das Gegenteil: Es gibt auch kein absolutes Gelingen des Bösen.
Unsere Kanzlerin hat das Attentat durch einen glücklichen Umstand überlebt, und ich schäme mich nicht, hier zu sagen, dass ich geweint habe, als ich diese Botschaft erhielt. Eine Botschaft, die symbolisiert, dass sich das Leben auch dann behauptet, wenn es bedroht wird von Fanatikern des Hasses, von
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