Die Kanzlerin - Roman
wieder hin. Sie war hochkonzentriert und machte sich Notizen. Als ihr Handy klingelte, schaltete sie es aus. Als er einmal zur Toilette musste, beachtete sie ihn nicht.
Dann schaute sie ihn an. Noch nie hatte sie ihn so angeschaut. Es war ein Blick, der fragte: Wer sind Sie?
Kranich wich dem Blick nicht aus und schaute sie ebenfalls an. Er sah eine Frau, die nicht mehr wollte und einen Abschluss suchte.
Sie ging wortlos ins Schlafzimmer. Ihre Notizen lagen auf dem Tisch. Kranich las: »Sehr geehrter Herr Bundespräsident. Mit diesem Schreiben teile ich Ihnen meinen sofortigen Rücktritt als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland mit. Ich hoffe, dass Sie für diesen Schritt Verständnis haben, und grüsse Sie, hochachtungsvoll, die Kanzlerin.«
Freitag, 15. August
Als Kranich um 6 Uhr morgens Geräusche hörte und aus dem Gästezimmer kam, wartete die Kanzlerin bereits auf ihren Fahrer.
»Gut geschlafen, Herr Kranich?«
»Wohin gehen Sie, wenn ich mir die Frage erlauben darf?«
»Sie dürfen sich mehr erlauben als die allermeisten, Herr Kranich, also auch diese Frage. Der Krisenstab wartet auf mich. Die nächsten Tage und Wochen werden strapaziös, auch für Sie. Also machen Sie sich frisch. Sie sehen aus wie ein Seeräuber. Rasieren Sie sich. Im Übrigen kommt Putin kurz ins Lagezentrum. Bitte informieren Sie meinen Vizekanzler und Haxer. Merkwürdig übrigens, dass ich von Haxer gestern den ganzen Tag keinen Pieps gehört habe. Sie?«
»Nein«, sagte Kranich. »Aber vielleicht war er … er war vielleicht auch erschüttert.«
»Herr Kranich, wenn Haxer erschüttert ist, dann hat er Schüttelfrost, dann ist er krank. Einen anderen Grund, Haxer erschüttert zu sehen, kenne ich nicht.«
W arum überlebte die Kanzlerin den Terroranschlag? – Linksextreme Täter? – Zielte das Attentat auf den Chef der Deutschen Bank? – Terrorzelle im Kantonsspital St. Gallen? – Verbrechen trägt die Handschrift von al-Kaida – Grösster Terroranschlag seit dem 11. September – Hätte die Schweiz das Attentat verhindern können?
Die Kanzlerin legte die Pressemappe weg und sagte zum Fahrer: »Schloss Bellevue.«
»Zum Bundespräsidenten?«
»Ich habe nicht vor, mich dort mit dem Gärtner zu unterhalten.«
Die Stadt war wie ausgestorben, und auch im Tiergarten regte sich nichts. Kein Jogger, keine Junkies, keine Radfahrer.
»Geben Sie diesen Briefumschlag bitte an der Pforte ab«, sagte die Kanzlerin, und der Chauffeur stieg aus. »Stopp!«, rief ihr Personenschützer und sprang aus dem Wagen, als sie die Tür öffnen wollte. Es war unerträglich.
Auf den Briefumschlag hatte sie geschrieben: »Erst öffnen, wenn ich Sie darum bitte. Beste Wünsche, die Kanzlerin.«
»Und jetzt?«
»Fahren Sie mich ins Kanzleramt.« Sie hatte nicht die geringste Lust, in Eiseles Lagezentrum zwischen aufgeblasenen BKA- und BND-Leuten herumzustehen und sich das Gerede dieser Wichtigtuer anzuhören. Hätten die Dienste nicht geschlafen, könnte sie heute mit Kiki Ritz über den Staatshaushalt reden. Oder mit Engel den Umweltgipfel vorbereiten.
Sie hatte sich kaum an ihren Schreibtisch gesetzt, als es klopfte und ein Personenschützer hereinkam. »Ein Herr Fröhlich möchte Sie gern sprechen. Sind Sie da?«
»Erstens bin ich kein Geist, zweitens hoffe ich, dass Sie mir auch keinen Geist ins Zimmer lassen, und drittens möchte ich Sie gern fragen, ob Sie Ihre Wäsche selbst machen oder sie zur Mutter bringen.«
Der Typ machte sein intelligentestes Gesicht und sagte: »Koche, wasche, bügle, mache alles selbst.«
»Dann könnten Sie sich ja eigentlich denken, warum ich Ihnen genau das auch ansehe.«
»Nein, Frau Kanzlerin.«
»Weil Sie einen wirklich beneidenswerten Waschbrettbauch haben, Herr Musculus …«
»… rectus abdominis«, sagte er zu ihrer Überraschung.
»Lassen Sie diesen Fröhlich rein.«
Da stand er nun, ihr Generalsekretär Adi Fröhlich, und die Kanzlerin sagte: »Aha«, und liess ihn im Raum stehen. Sie verschickte eine SMS an Kanzleramtschef Haxer: »Danke für Ihre Anteilnahme. LG, Kanzlerin«; an Benedikt Eisele: »Sehr eindrucksvolle und souveräne Rede. Ich danke dir, Benedikt. Bis bald, Xenia«; an BKA-Chef Brack: »Neue Erkenntnisse? Putin kommt. Möchte Sie und Puller dabeihaben. Grüsse, Kanzlerin«;an Dexter Flimm: »Erwarte von Ihnen eine Analyse über die neue Anarchoszene, die aber nicht umfangreicher sein darf als eine A4-Seite. Danke, Kanzlerin«; und an Filip Loderer – dann
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