Die Kanzlerin - Roman
Predigern der Angst, von erbärmlichen Kreaturen, die nur eines können: vernichten. Es ist so leicht zu töten. Und es ist so schwierig, angemessen zureagieren auf Menschen, die in blindem Hass zuschlagen und alles zerstören wollen, was uns wichtig ist: Respekt vor dem Leben, ein friedliches Miteinander, Zusammenhalt und Toleranz.
Und ich sage Ihnen: Deutschland wird es anders machen. Wir werden uns von kranken Gehirnen nicht vergiften und unsere Ideale nicht zerstören lassen. Nicht von Terroristen. Deutschland lässt sich sein Handeln nicht von Mördern diktieren. Sondern diese Mörder werden zu spüren bekommen, welche Kraft in unserem Land steckt. Welche Kraft in unserem freiheitlichen Leben steckt, in unserem Hirn, unserem Blut, unserem Leben.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Mörder können morden, und das gelingt ihnen manchmal auch dann, wenn wir alles getan haben, um das zu verhindern. Aber hüten wir uns vor Dämonisierungen. Deutschland und die Schweiz sind Nationen, geprägt von der Aufklärung. Und genauso werden diese beiden Länder zusammenarbeiten: aufgeklärt und mit kühlem Kopf. Deutschland steht auf, habe ich am Anfang meiner Rede gesagt, und meinte damit: Deutschland lebt.
Und so möchte ich zum Schluss meiner Rede noch einmal Baudelaire zitieren, der ein Gedicht mit zwei Gebetszeilen schloss, die sagen, dass sich Schmerz nicht mit Rache lindern lässt: Gib, Herr, mir Kraft und Mut, dass ohne Grauen / Hinfort ich auf mich selber blicken kann!
›Deutschland ist stark‹, hat die Kanzlerin unlängst gesagt. Und ich bin sicher, dass wir alle die Stärke haben, jetzt so mutig zu handeln, dass wir mit Stolz in den Spiegel schauen können im Rückblick, wenn getan ist, was jetzt getan werden muss: Wir werden die Schuldigen finden und vor Gericht stellen. Wir alle werden das tun. Denn wir sind Deutschland. Ein Land, das sich in dieser Stunde erhebt, im Gedenken an die Opfer und ihre Hinterbliebenen. Ihnen gilt unser ganzes Mitgefühl, wir teilen ihren Schmerz und ihre Trauer, und sie können sich auf uns verlassen:auf die Schweizer, auf die Deutschen, auf unsere Kraft, unser Hirn, unser Blut …«
Und vielleicht könnte Eisele am Schluss sagen: »Ich bin so erschüttert wie Sie.«
Loderer fühlte sich plötzlich erschöpft. Die Rede war zu lang, und vielleicht hätte er auf ein, zwei Baudelaire-Zitate verzichten wollen. Konkreteres sagen, wobei: Wenn Innenminister Eisele Informationen hatte, die er verkünden wollte, dann würde er dies ohnehin tun.
Er verschickte den Text. Zehn Minuten später simste Eisele: »Etwas zu pathetisch und auch zu poetisch. Aber mit brauchbaren Ansätzen. Sauber herausgearbeiteter Appell an souveränes Handeln. Mitarbeiter überarbeiten Ihren Text. Danke Ihnen für die Arbeit. LG, Eisele.«
Die Kanzlerin hatte sich auf Anraten von Kranich hingelegt und war eingeschlafen. Sie schlief so ruhig und zufrieden, dass Kranich sie nicht weckte, als sich Eisele um 20 Uhr über die vier grossen Fernsehstationen an das Volk wandte und eine Rede hielt, die ungewöhnlich war. Baudelaire. Und immer dann, wenn er ihn zitierte, kam der Innenminister ins Stocken. Einmal nahm er ein Taschentuch und tupfte sich die Augen ab. Aber wenn er dann wieder in die Kamera schaute, waren seine Augen hellwach. Kranich sah entschlossene Augen. Und müde war er, das hatten sie nicht wegschminken können in der Maske.
Als die Kanzlerin aufwachte, war es dunkel draussen. Und weil Kranich ihren Schlaf nicht hatte stören wollen, hatte er auch im Wohnzimmer kein Licht gemacht.
»Kranich, was hat Eisele gesagt?«
»Dass auch das Böse nicht immer ganz gelingt und dass Ihr Überleben ein Symbol sei für die Kraft des Lebens. Ein Zeichender Hoffnung in düstersten Stunden. Er hat sich vor den Toten verneigt und gesagt, dies sei nicht die Stunde der Rache. Er hat eine sehr nachdenkliche Rede gehalten.«
»Eisele denkt immer nach.«
»Aber am Schluss sagte er: ›Ich bin so erschüttert wie Sie‹, und das sah man ihm an.«
»Eine solche Rede hätte ich diesem Loderer gar nicht zugetraut«, sagte die Kanzlerin, aber als Kranich eine Frage auf der Zunge lag, winkte sie ab: »Keine Diskussionen jetzt, Herr Kranich. Morgen. Morgen wird wieder viel geredet. Alle werden reden, auch ich. Aber heute will ich kein Wort mehr sagen. Und wenn Sie das stört, dann können Sie gern gehen.«
Kranich blieb. Die Kanzlerin zündete sich eine Zigarette an, hustete, öffnete ein Fenster und setzte sich
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