Die Kanzlerin - Roman
Neubauten, Umbauten, Deckplanen an nackten Fassaden, die wie Badetücher an den Hausmauern klebten. Loderer fuhr hinter einem stinkigen Diesellaster. Er hätte ihn überholen können, links oder rechts. Aber er wollte nicht überholen. Er hatte Zeit, und er genoss es, die Abgase einzuatmen, mit denen die Luft verdreckt wurde. Er war die schwarze Lunge in dieser grünen Stadt, ein gutes Gefühl. Aber dann, als der Laster plötzlich den Blinker stellte und stehenblieb, musste Loderer doch überholen. Und gab Gas.
» H aben Sie kurz Zeit für mich, Kranich?«
»Gern.«
»Das ist leider nicht möglich, Kranich, obwohl es sehr freundlich ist, dass Sie das Unmögliche sogar gern tun würden. Man kann die Zeit aber nicht haben, also auch nicht kurz.«
»Keine Zeit zu haben ist eine Ausrede.«
»Falsch, Kranich, falsch – im Gegenteil. Weil: Zeit kann man nicht besitzen. Man kann sie nicht haben. Also kann man auch nicht keine Zeit haben, Herr Kranich – was keine Ausrede ist.«
»Und das Gegenteil, Frau Kanzlerin?«
»Ich bin die Zeit, Kranich. Und Sie sind die Zeit. Die Zeit ist. Und wir sind die Zeit.« Sie schaute auf die Uhr. »So interessant das alles auch sein mag – es ist Zeit, und ich muss gehen. Haxer wartet.«
Kranich wollte aufstehen, aber die Kanzlerin winkte ab.
»Herr Kranich, was verstehen Sie eigentlich unter Zeitgeist?«
Er überlegte kurz und sagte: »Wir leben in unserer Zeit und werden geprägt von vorherrschenden oder auch weniger herrschenden Meinungen, jedenfalls unter Bedingungen, die wir in unserer Zeit als gegeben vorfinden, und wir interessieren uns nur für mehr als das, was ist, wenn sich ein erster Zipfel zeigt von etwas Neuem, von etwas, was vielleicht sogar in die Zukunft weist. Und wenn wir wach sind, sehen wir einen solchen Zipfel und packen ihn.«
»Nicht übel für den Anfang, Herr Kranich, Sie hätten Politiker werden sollen. Und weiter?«
»Weiter stellt sich die Frage, welche Zeiträume Zeit überhaupt erfassen kann. Es sei denn, man will unter Zeit nur das Messbare verstehen. Die generelle Frage aber ist: Was machen wir mit unserer Zeit?«
»Wir messen Sie zum Beispiel, Herr Kranich. Sie werden mir als Physikerin diese Bemerkung sicher erlauben, auch wenn das inIhre wohl eher philosophisch angelegten Überlegungen vielleicht nicht passt. Zeit als Dimension, das sollten Sie nicht vergessen.«
»Zeit ist ein Gefühl«, sagte Kranich. »Und persönlich habe ich das Gefühl, immer auf etwas zu warten.«
»Es gibt nur zwei Sorten Menschen, Kranich: Die einen können es kaum erwarten, und die andern stellen sich in die Schlange. Aber alle warten darauf, dass etwas passiert. Stellen Sie sich vor, es gäbe plötzlich einen totalen Stillstand in der Wahrnehmung der Menschen. Und alle hätten das Gefühl, es würde nichts mehr passieren.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Weil Sie Schweizer sind und eine Uhr im Kopf haben«, sagte die Kanzlerin. Dann zwitscherte es, und sie las eine SMS. »Diese wunderschönen Bahnhofsuhren, Kranich, die haben mich schon immer fasziniert. Diese kleine Verzögerung, dieses Ruckeln, bis der Zeiger von der einen auf die nächste Sekunde springt, und dazwischen gibt es ein Innehalten, das mir Ruhe gibt, obwohl es an sich ja völlig unsinnig ist, der Zeit sozusagen Zeit zu geben, bis sie sich von der einen zur anderen Sekunde bewegt. Haben Sie sich eigentlich noch nie gefragt, warum ich mir so viel Zeit nehme für die vielen Gespräche, die ich mit Ihnen pflege?«
»Sie brauchen Ablenkung, Frau Kanzlerin.«
»Möglich, Herr Kranich. Sie fliesst zwar nicht, die Zeit, und würde sie fliessen, weil wir diese Illusion ja alle gern pflegen, dann wären Sie jedenfalls oft kein sehr effektives Gerinnungsmittel, vielmehr eine Person, die Zeitadern auch verstopfen könnte, aber das soll Sie nicht kränken. Als Politikerin kann ich Ihnen nämlich sagen: Streng genommen ist alles im Fluss, und wenn wir nicht aufpassen, dann saufen wir alle ab. Was auch für Sie gilt, Herr Kranich.«
Was meinte sie damit? Er hatte ein ungutes Gefühl.
»Herr Kranich, was ich Ihnen zu sagen habe, ist in doppelterHinsicht unerfreulich. Einerseits für Sie: Sie haben Schulden, Sie spielen im Casino, Sie können offensichtlich nicht mit Geld umgehen und stecken in allergrössten Schwierigkeiten. Das ist sozusagen Ihre unerfreuliche Seite. Andererseits ist das aber auch für mich eine sehr unschöne Angelegenheit, weil ich es mir nicht leisten kann, einen engen
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