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Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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sie in ihrer Kindheit oft mehr zu leiden hatten. Immer gefallen wollen. Den Vätern. Sie geben sich für alles die Schuld, viele Frauen. Und kommen nicht heraus aus ihrer Opferrolle.«
    »Bin noch da, denke nach.«
    »Aber manchmal, wenn ich Mitleid haben müsste, fühle ich nichts oder bin sogar abgestossen. Einmal musste ich ein Verbrennungsopfer durchbewegen. Es hat tierisch gestunken. Weil die Verklebungen aufgerissen waren. Aber ich musste den Mann bewegen, und es nässte, und es war Sommer, ein furchtbarer Geruch. Ein andermal habe ich eine Patientin gehabt, direkt nach einer Chemotherapie. Ich habe sie angefasst, habe getastet, gedrückt, aber da war kein Rhythmus mehr zu spüren. Die Chemo hatte alle Zellen vernichtet. Ich habe praktisch eine Tote durchgeknetet.«
    »Frau Male, was kann ich dir Gutes tun?«, schrieb Loderer, obwohler dachte: Kaputt ist kaputt. Seine Lust jedenfalls war kaputt.
    »Willst du mir sagen, was du beruflich machst, Controller?«
    »Nein. Aber was ich sagen kann: Ich rede und ich schreibe, und damit weisst du schon alles über mich.«
    »Ich höre gern Verliebte reden, du auch?«
    »Ja. Weil da kein Argwohn drin ist und kein Vorbehalt.«
    »Hast du in deinem Leben schon einmal bedingungslos geliebt, Controller?«
    »Ja, das habe ich.«
    »Willst du darüber reden?«
    »Nein«, schrieb Loderer. »Aber es gibt Zeugnisse davon. Ich habe ihr Gedichte geschrieben.«
    »Ich möchte eines lesen.«
    »Es ist ein SMS-Gedicht. Die kleine Uhr / sagt nur die Zeit / vergeht Tag / für Tag für Tag / Die grosse Uhr / aber zeigt auf / dich und mich / Sagt Zeit für uns. «
    »Controller, ich bin entzückt. Das habe ich von dir nicht erwartet. Das ist gut, das ist wunderschön. Ich will noch ein SMS-Gedicht lesen, bitte.«
    »Schwarz vor Augen / Schwarz wie deine Haare / Rot vor Augen / Das Feuerrot in / deinem Gesicht / dich vor Augen / deine Augen / Für den schönsten / Augenblick.«
    »Kann mich anlehnen an dich. Bilde mir ein, das hast du für mich geschrieben.«
    »Berlin erwacht / Ein Po einfach so / Der Frühling hat / So viele Beine / Und jeder Mann / Sucht da ein / Loch also doch / Mein Frühling / hat nur zwei Beine / deine Swenja deine.«
    »Du hast sie sehr geliebt, diese Frau, Controller.«
    »Sie war so aufgeregt, weil sie lebte. Und sie war so aufgeregt, weil sie nicht wusste, wie sie leben sollte. Und so aufgeregt, wenn sie trotzdem das Leben spürte, und in Aufruhr, als sie es plötzlichnicht mehr spürte. Sie hat mich ausgewählt, weil ich ihr Halt geben konnte. Und jetzt bin ich ein Haltloser. Du hast recht, Frau Male, dass du dich nicht an einen Haltlosen anlehnen magst. An Worte, die gesagt sind und die ich nie mehr sagen werde. Aber ›bis morgen‹ sage ich dir, Frau Male, ich wünsche dir viele Beine und darunter zwei exklusive Beine nur für dich.«
    Loderer dachte: Ich empfinde nichts mehr und kann nicht mehr Anteil nehmen. Dass Frau Male von ihren Kids geschrieben hatte, vor Tagen – er hatte es gelesen und vergessen. Keine Frage, kein Interesse, er würde ehrlich bleiben. Und ihre Patienten. Er öffnete das Fenster, aber der Geruch blieb haften. Er musste Distanz halten. Und sie auch. Sonst hätte sie ihm das nicht erzählt.

» L iebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Ich werde mich bemühen, Sie so sachlich und unaufgeregt wie möglich über die grösste Herausforderung zu informieren, der sich die Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen ausgesetzt sieht. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es mir gelingt, meine Emotionen völlig zu unterdrücken. Wir alle lieben unser Land, und dieses Gefühl der Heimatliebe ist an keine Funktion gebunden. Ich rede als Innenminister zu Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, aber die Situation, die mich dazu zwingt, macht überdeutlich, dass wir alle gleichermassen gefordert sind, wenn es um unser Land geht. Sollte ich bei dieser Ansprache manchmal ins Stocken geraten, dann werden Sie das hoffentlich entschuldigen, weil es heute Abend nicht darum geht, dass ein Minister seine Souveränität und Stärke demonstriert, ganz im Gegenteil. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist geprägt von Ohnmacht, Hilflosigkeit, Trauer, Wut und Entsetzen, und ich ringe um meine Fassung …«
    Loderer stellte sich Innenminister Eisele vor, wie er in die Kamera schaute und dann sagte:
    »Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Redenschreiber des Kanzleramtes haben mir ein Manuskript auf den Tisch gelegt, in dem alles Nötige steht,

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