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Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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keine einzige Sekunde aus den Augen zu verlieren. Selbst wenn der Ball minutenlang im gegnerischen 16-Meter-Raum hin- und hergeschoben wurde, blieb er darauf fixiert, und nichts konnte ihn von diesem Ball ablenken.
    Ihre Aufgabe allerdings war noch schwieriger. Als Personenschützerin der Kanzlerin hatte sie zwar auch so etwas wie einen Ball, der nicht aus den Augen zu verlieren war, aber meistens war dieser Ball unsichtbar. Dabei dachte sie weniger an jene Situationen, in denen sich die Kanzlerin etwa auf der Tribüne bei einem Fussballspiel oder in der Loge eines Theaters präsentierte. Vielmehr waren es die ganz kurzen Augenblicke von Übergängen, die heikel waren und immer wieder trainiert werden mussten. Beispielsweise wenn die Kanzlerin aus dem Auto stieg und die paar Meter zur Bundespressekonferenz zu Fuss gehen oder sich auf dem Nachhauseweg eine Strassenzeile vor ihrer Haustür noch einenkleinen Bummel gönnen wollte. Diese Übergänge von geschützten in ungeschützte Räume waren deshalb so diffizil, weil jede Art von Überbrückung auch Bruchstellen hat, Sekundenbruchteile, die unberechenbar sind, auch wenn der Ablauf einstudiert ist und Personenschützer mit anderen Sicherheitskräften routiniert und professionell zusammenarbeiten. Es galt zu vermeiden, dass sich solche Augenblicke mit Bruchstellen wiederholten und somit für potentielle Angreifer voraussehbar waren. Andererseits, dachte Gabriela Hell, war es nicht zu verhindern, dass die Kanzlerin ihre Vorlieben pflegte und beispielsweise trotz allen Warnungen immer wieder dieselben Schuhgeschäfte in der Innenstadt aufsuchte oder sich nicht davon abhalten liess, Süssigkeiten oder andere Delikatessen in den immer gleichen Läden einzukaufen. Sie wolle ihren Lieblingsschinken auch gern riechen, bevor sie ihn kaufe, sagte sie einmal, und das galt im Prinzip bei ihr für alles, was sie gernhatte. Sie war eine neugierige und lebenslustige Frau und nicht bereit, sich die Sinnlichkeit einer Grossstadt wie Berlin gänzlich verbieten zu lassen. Diesen Handlungsspielraum hatte sie sich erkämpft, und Gabriela Hell und ihre Kolleginnen und Kollegen hatten sich damit zu arrangieren.
    Von ihrer Dienststelle hatte Hell den Auftrag erhalten, sich früher als geplant vor dem Apartmenthaus, in dem die Kanzlerin wohnte, zu positionieren, und so sass sie in einem gegenüberliegenden Café mit freiem Blick auf alle Seiten. Manchmal stand sie auf, ging ein paar Schritte, und wer auch immer in dieser Zeit den von ihr überwachten Raum durchquerte, konnte sicher sein, als Person erfasst und für immer in Hells Gedächtnis gespeichert zu werden. Im Umkreis von einem Kilometer waren zudem mehrere Polizeifahrzeuge stationiert, die den Wohnraum der Kanzlerin unauffällig, aber effizient überwachten, und natürlich gehörte zum Sicherheitsdispositiv auch eine Gruppe von Zivilfahndern, die Gabriela Hell in der Regel persönlich kannte. Es wäre einKunstfehler, wenn sich zwei Sicherheitsleute plötzlich gegenseitig ins Auge fassten und damit bei dem, was zu überblicken war, Lücken entstünden.
    Gabriela Hell hatte sich schon längst abgewöhnt, sich die manchmal elend langen Wartezeiten mit allzu vielen Gedanken zu vertreiben, weil Gedanken dazu neigen, eine Eigendynamik zu entwickeln, die ihre Aufgabe gefährden könnte. Also hatte sie sich eine Technik angeeignet, aufkeimende Gedanken sofort zu eliminieren, auch wenn ihr das manchmal schwerfiel, schliesslich war sie eine normale junge Frau von achtundzwanzig und überdies eine Frau mit Liebeskummer. Ein paar Monate nur war sie mit ihm zusammen gewesen, dann wusste sie: Das ist er nicht, das geht nicht, und sie zog die Konsequenzen. Was sicher richtig war, aber trotzdem verdammt weh tat. Doch wer eine Technik beherrscht, kann sich auch von solchen Gefühlen frei machen, den Kopf leeren und sich total auf die Aufgabe konzentrieren.
    Die über Handy erfolgte Anweisung, sich in das Entree des Apartmenthauses zu begeben und dort vor dem Fahrstuhl Stellung zu beziehen, erstaunte sie zwar, weil das eher unüblich war, aber der Einsatzleiter hatte dazu eine durchaus einleuchtende Erklärung geliefert: Zwei weitere Personenschützer würden die Kanzlerin nach Hause begleiten, und ihre, Hells, Aufgabe sei es, die Kanzlerin im Hause zu übernehmen und während vier Stunden zu überwachen. Länger dauerten solche Einsätze nur ausnahmsweise, weil auch die Besten nur eine limitierte Konzentrationsfähigkeit haben, und Gabriela Hell war

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