Die Kanzlerin - Roman
vor Ort aktiven Zivilfahnders und den zwei Streifenpolizisten, die als Erste am Tatort eingetroffen waren, keine weiteren Basisbeamten über den Sachverhalt informiert wurden. Die Kripo war angewiesen, namentlich die beiden Uniformierten auf strengste Vertraulichkeit zu verpflichten. Niemand war befugt, über den Fund der Leiche irgendwelche Auskünfte zu erteilen.
Zu einem kleineren Disput kam es, als Haxer in Übereinstimmung mit BKA-Chef Brack entschied, der Kanzlerin vorläufig nur die rudimentärsten Informationen zu liefern. Also nichts zu den Begleitumständen der Tat, den sichergestellten Spuren, dem Fundort der Leiche, nur die Information, dass eine ihrer Personenschützerinnen tot aufgefunden worden sei. Regierungssprecher Kordian von Aretin protestierte gegen diese – seiner Auffassung nach völlig despektierliche – Geheimnistuerei, liess sich aber letztlich davon überzeugen, dass es im Zusammenhang mit der Kanzlerin im Augenblick nur darum ging, ihr klarzumachen, dass es für den Moment klüger war, wenn sie in der Kanzleramtswohnung übernachtete. Um keinen allzu grossen Ärger zu bekommen, würde er die Kanzlerin trotzdem fragen, ob sie das politische Kontrollgremium der Geheimdienste schon jetzt informieren wolle. Haxer war sich sicher, dass sie dies nicht veranlassen würde. Als Politikerin wusste sie, was Politiker vertrauensvoll verdauen können und was nicht und in welchen Portionen undzu welchem Zeitpunkt man ihnen heikle Informationen aushändigen konnte.
Pierre Haxer klopfte an die Tür der Kanzlerin, weil sie sich telefonisch nicht gemeldet hatte. Doch sie war weder im Büro noch in ihrer Wohnung. Obwohl der Kanzleramtschef nicht zu hysterischen Ausbrüchen neigte, erhöhte sich sein Puls. Hatte sie ihn nicht in ihr Büro zitiert, spitz und ziemlich aufgebracht? Das Kanzleramt ist gross, und Haxer hatte dafür gesorgt, dass die rund zehnköpfige Truppe separat eintrudelte und sich in einem Raum einrichtete, der üblicherweise für ganz andere Dinge vorgesehen war und etwas versteckt lag. Als ihm ein Mitarbeiter mitteilte, die Kanzlerin sei gesichtet worden und wohlauf, zündete er sich eine Zigarette an und sagte: »Schickt zwei weitere Personenschützer hin, aber lasst sie in Ruhe.«
»Da ist sie«, rief eine kölnische Frohnatur mit diesem unsäglich banalen Dialekt, den die Kanzlerin so verabscheute, dass sie Mühe hatte, Reden von Rheinländern im Bundestag überhaupt ernst zu nehmen. Das einzig Ernsthafte an Köln war Daum, der Fussballtrainer, dachte sie.
Es war extrem selten, dass sie sich im Café der Reichstagskuppel eine kleine Pause gönnte, aber heute musste sie aus ihrem Glaskäfig raus. Mozart hatte sich wieder gemeldet, eine Message, die sie ungelesen sofort gelöscht hatte, danach schaltete sie das Handy aus, und als sie auf der Kuppel auf die Uhr schaute, stellte sie mit Befriedigung fest, dass mittlerweile schon eine halbe Stunde vergangen war. Zwar bekam sie durchaus mit, dass ihre Personenschützer eifrig telefonierten und ihre Lippen bewegten und sich vor all den Touristen ziemlich eitel benahmen, aber ernst zu nehmen war das nicht. Den kleinen Luxus wollte sie sich gönnen, den hatte sie sich erarbeitet, die Sonne schien, undansonsten hatte sie alles geregelt, was vor einer Sommerpause zu regeln war.
Sie ignorierte die Touristen, die mit ihren Fotohandys herumfuchtelten und von den – warum standen da plötzlich vier Personenschützer? – Bodyguards mitunter auch unsanft zurückgedrängt wurden, und genoss ihren Espresso. Mit etwas Sahne, das schmeckte ihr.
Ansonsten verging die Zeit auf eine fast zarte und unauffällige Art und Weise. Darin etwas Fliessendes zu sehen war ihr als Physikerin leider nicht möglich, und trotzdem genoss sie diesen Augenblick, den es so wenig gab wie die Vergangenheit oder das, was sie als Politikerin Zukunft nennen musste. Was auch immer geschah, geschehen war oder noch geschehen mochte: Es gab eine Verlässlichkeit, und was man messen konnte, war gut eingebettet und im Zweifelsfall eher zu bestaunen als zu erklären.
Als die Kanzlerin erneut auf die Uhr schaute, war doch erstaunlich viel Zeit verflossen. Und auch wenn sie wusste, dass das nur eine Illusion war, weil möglicherweise Flüsse fliessen, aber nicht die Zeit, musste sie diese kleine erfreuliche Pause jetzt beenden. Sie tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab, schaltete ihr Handy wieder ein, stand auf, lächelte ihren Leibwächtern zu und liess sich ins
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