Die Kanzlerin - Roman
eine der Besten. Sie war der Kanzlerin sympathisch, und diese Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit.
Gabriela Hell betrat das Wohnhaus, in dem es neben dem Hausmeister noch zwei Nachbarn gab, die eng mit den deutschen Sicherheitsdiensten kooperierten und bei denen sich Personenschützer in Ruhepausen auch zurückziehen konnten.
Wer im Haus der Kanzlerin lebte, war natürlich durchgecheckt, und die überall installierten Kameras wurden ganz bewusst so platziert, dass sie fremde Besucher auch sofort als solche erkennen konnten.
Gabriela Hell öffnete die Haustür, sah eine ihr unbekannte Person von hinten am Fahrstuhl stehen: schwarze Lederjacke, mittelgross, kräftig, Ansatz zur Glatze, etwa vierzig, depressive Haltung, ruhig. Es war das Letzte, was sie sah.
Kripobeamte, Beamte des Landeskriminalamtes Berlin, zwei Streifenpolizisten und Zivilfahnder Lars Schwarzer trafen fast gleichzeitig am Tatort ein, nachdem sich Gabriela Hell auf einen Anruf der Zentrale nicht gemeldet hatte. Das ganze Gebiet wurde in wenigen Minuten abgeriegelt, zwei Streifenpolizisten öffneten die Haustür, gedeckt von zwei LKA-Männern, die zwar kein unnötiges Aufsehen erregen wollten, aber trotzdem schussbereit waren. Eine junge Frau, die in diesem Augenblick den Fahrstuhl verliess und ihrem Kind eine Kapuze über den Kopf schob – ein Gewitter hatte sich kurz zuvor mit grosser Heftigkeit entladen –, wurde vor der Haustür unauffällig überprüft: die Personalien stimmten, eine Hausbewohnerin.
Lars Schwarzer, begleitet von einem Kripo- und einem LKA-Kollegen, arbeitete sich sorgfältig nach unten vor, zu den Fahrradabstellplätzen und Kellerräumlichkeiten, andere Kollegen gingen die Treppe hoch beziehungsweise in den Hinterhof des Gebäudes. Schwarzer hatte ein ungutes Gefühl. Kollegin Hell war eine kluge und vorsichtige Frau mit Fähigkeiten, um die sie viele beneideten.
Es war ein trauriger und bewegender Anblick. Schwarzer schloss für ein paar Sekunden die Augen. Er hatte die Tür zum Abfallraum geöffnet, ein enger Raum, in dem die Mieter kleinere Abfälle entsorgen konnten, hinter einer Tür, die schwer ins Schlossfiel und so dick war, dass der Raum praktisch schalldicht war. Gabriela sass auf dem Boden, den Kopf an die Wand gelehnt, mit gespreizten Beinen und einem seltsamen Lächeln im Gesicht.
Schwarzer legte seine Hand auf ihre Halsschlagader, die Haut war noch warm, sie war tot. Ein Kollege rief den Notarzt. Schwarzer war kein Profiler, aber er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich jede Einzelheit eines Tatorts ganz genau anzusehen und mit seiner Kamera zu dokumentieren. Doch hier, in diesem blitzsauber geputzten und wohl erst neulich frisch gestrichenen Abfallraum, gab es nichts zu sehen. Es gab nur die Tote, die Gabi, und Schwarzer dachte an Personenschützer Boron, der sich unsterblich in sie verliebt hatte. Vor ein paar Monaten hatte es zwischen den beiden gefunkt, nun war sie tot, und Schwarzer sah in ihr Gesicht. Sie lächelte ihn an, so glücklich, dass Schwarzer sich sehr seltsam fühlte. Zwar hatte er schon viele Mordopfer gesehen, denen das Schicksal nicht anzusehen war, das ihnen widerfahren war, aber dieser Ausdruck von Zufriedenheit in ihrem Gesicht, der machte ihm zu schaffen.
Auffällig: die weiss lackierten Fingernägel. Die Schuhe, ausgezogen und ordentlich hingestellt. Auch die Zehennägel: weiss lackiert.
Ein schwerer Duft füllte den Raum. Schwarzer atmete unwillkürlich langsam und nahm nur so viel Luft auf wie unbedingt nötig.
Er wartete, bis der Notarzt kam, und blieb auch noch, bis der Pathologe eintraf und sich das Wohnhaus der Kanzlerin mit immer mehr Menschen füllte – erst dann ging Schwarzer die Treppe hoch, nach draussen. Wie gut die Luft roch, nach dem Gewitter. Wie schön Berlin war, im Sommer. Und wie harmlos die Stadt wirkte. Sein Handy klingelte, und Schwarzer sagte: »In einer Stunde, werde da sein.« Die erste Lagebesprechung.
K anzleramtschef Haxer entschied sofort: Krisenstab, totale Nachrichtensperre. Formal zuständig für die ersten Ermittlungen war das Landeskriminalamt Berlin, dessen Leiter Ungerer durchaus über gewisse Fähigkeiten verfügte. Trotzdem platzierte Haxer im Krisenstab nach Absprache mit BKA-Chef Brack auch einen Nachrichtendienstler und einen Verfassungsschützer als Beobachter. Im Übrigen vertraute Haxer der Berliner Kripo, die sozusagen das Handwerkliche abzuliefern hatte, und zwar schnell. Weiter veranlasste Haxer, dass mit Ausnahme des
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