Die Kanzlerin - Roman
einmal gesagt, Heimat bedeute für sie nicht zuletzt, Ruhepunkte zu finden.
Die Nähe zur Natur zu spüren, die Jahreszeiten zu erleben – das war in ihrem Glasbunker nicht möglich. Sie sah den Regen, hörte ihn aber meist nicht. Sie sah die Natur, mit Fensterglas dazwischen. Seitdem sie in Berlin war, gab es keine Jahreszeiten mehr. Und auch ihre handwerklichen Fähigkeiten waren nicht gefragt, obwohl sie leidenschaftlich gern die Dinge in die Hand nahm. Tischlern zum Beispiel, schneidern. Politik aber konnte man nicht in die Hände nehmen, obwohl ihre Akteure sich ja immer wieder mit dem brüsteten, was sie angeblich angepackt hatten.
Sie geriet ins Sinnieren, und als es klopfte, schreckte sie auf.
»Bossdorf«, sagte er.
»Ich weiss, setzen Sie sich. Sie haben mir etwas mitgebracht.«
Bossdorf überreichte ihr ein Mäppchen.
»Und?«, fragte die Kanzlerin.
»Ich habe mir erlaubt, Ihnen aus dem Netz ein paar Dialoge zu holen, die ich nicht redigieren wollte.«
»Den Aufwand wollten Sie sich ersparen?«
»Sie sagten, dass Sie wissen wollen, wie die Leute denken. Aber, Frau Kanzlerin, im Netz denken die Leute nicht nur, sondern sagen exakt das, was sie denken. Was gewöhnungsbedürftig ist.«
»Herr Bossdorf, was wollen Sie mir sagen?«
»Dass es vielleicht klüger wäre, wenn ich Ihnen das, was ich herausgefiltert habe, mündlich vortrage, in geraffter Form.«
Bossdorf war das Ganze mehr als peinlich. Da lag eine Mappe mit teilweise furchtbar vulgären Äusserungen über das Äussere der Kanzlerin, und sie schlug die Mappe auf und las sie durch, in seiner Anwesenheit.
»›Sie hat eine gute Figur‹, steht da, Herr Bossdorf, na also. Aber diese Viola meint, dass mein Busen schlecht verpackt war. War er nicht, und raushüpfen konnte er auch nicht. Was die Leute sich für Sorgen machen. Aber da, das ist doch wirklich sehr schmeichelhaft: ›Ein sehenswerter Busen!‹ Mit Ausrufezeichen, Herr Bossdorf. ›Einfach makellos‹, schreibt eine Kanadierin.«
Bossdorf konnte sich nicht mehr beherrschen. »Aber dann schreibt eine gewisse Zitrone: ›Mir wird schlecht.‹«
»Hab ich nicht gesehen, Herr Bossdorf. Ich les da fast nur Dinge, die ich als Kompliment begreife. Sie haben, wie mir scheint, dem Volk gegenüber Vorbehalte, die ich so nicht teilen kann. ›Das Äussere der Frau Kanzlerin ist schon sehr viel vorteilhafter geworden‹, steht da, Herr Bossdorf. Nun gut, der Vergleich mit dem Finnischen Meerbusen und den kolossalen Landmassen dort, das ist doch einigermassen unpassend, wie ich meine. Und der Verweis auf die Schwerkraft nicht eben niveauvoll. Aber da ich ja nicht die Mutter der Nation bin, habe ich entsprechende Bedürfnisse auch nicht zu stillen, weder mit Milch noch mit Bier. Ach, Bossdorf, diese Bayern. Aha, das meinten Sie vielleicht: Da will einer Schadenersatz, weil er meinen Auftritt gesehen hat und seither ein Augenleiden beklagt. Herr Bossdorf, das ist zwar nicht eben viel, was Sie mir da auf den Tisch gelegt haben, danke trotzdem, und, wie ich höre, hat es schon wieder geklopft – wenn Sie bitte die Tür öffnen könnten?«
Pierre Haxer konnte sehr diskret sein. »Ich hoffe, ich störe nicht.«
»Sie stören nicht, Herr Kanzleramtschef, Sie kommen nur reichlich spät. Ich habe mit Herrn Bossdorf vom Bundespresseamt ein bisschen über meinen Busen geplaudert. Manchen Leuten gefällt er, manchen nicht. Wie halten Sie es damit?«
Haxer wollte sich dazu nicht äussern, obwohl die Kanzlerin eine Antwort erwartete. »Vielleicht dürfte ich Sie um ein Vieraugengesprächbitten, Frau Kanzlerin …« Aber Bossdorf war schon weg.
»Es geht um Mozart«, sagte die Kanzlerin, holte ihr Handy und las vor, was sie abgespeichert hatte. »Er nennt mich mittlerweile Xenia.«
»Warum, Frau Kanzlerin, wenn ich mir diese Frage erlauben darf, haben Sie sich überhaupt auf diesen Mozart eingelassen, und das offenbar schon seit längerer Zeit?«
»Weil ich ein neugieriger Mensch bin, Herr Haxer. Aber jetzt weiss ich genug, um zu wissen, dass ich Ihnen diese Sache übergeben muss. Machen Sie diesen Mozart ausfindig. Orten Sie ihn, ich würde ihn nur allzu gern persönlich kennenlernen.«
Haxer las, sagte aber nichts.
»Nehmen Sie das Ganze ernst, Herr Haxer? Oder haben wir es mit einem Spinner zu tun?«
»Er schreibt«, sagte Haxer, »dass, wer singe, nicht immer nur sein eigenes Leben retten wolle. Das sind natürlich Sätze, die angesichts des Todes von Frau Hell durchaus auch eine
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