Die Kanzlerin - Roman
Sein rechter Arm hing von der Bettkante.
E s hatte lange gedauert, bis Loderer endlich begriff: Wenn man dem CO 2 die 2 nimmt, dann hat man CO, dann hat man Kohlenmonoxid. Damit hatte er es zu tun: »Kohlenstoffmonoxid ist ein farb-, geruch- und geschmackloses giftiges Gas.« Loderer druckte die Wikipedia -Seite aus, überflog die Strukturformel, die chemischen Eigenschaften. »Kohlenstoffmonoxid ist ein gefährliches Atemgift und kann zu einer Kohlenstoffmonoxidintoxikation führen.« Weil es, einmal in den Blutkreislauf gelangt, sich 325-mal stärker an den roten Blutfarbstoff Hämoglobin binde als Sauerstoff. Weil mit der Zeit 50 Prozent des Hämoglobins im Blut durch das CO blockiert würden: »Bei 1,28 Prozent Kohlenmonoxid in der Luft tritt der Tod innerhalb von ein bis zwei Minutenein …« Blockierung des Sauerstofftransports im Blut. Tod durch Erstickung.
Ein Klick, und Silikon-Susi schickte ihm ein Smiley.
Loderer reagierte panisch: »Wer bist du? Was willst du?«
»Wie mein Name schon sagt. Eine Frau, vielleicht etwas künstlich und in vielen Welten zu Hause. Auch in deiner. Du kannst uns helfen.«
»Durchgeknallten Internetfreaks ist nicht zu helfen.«
»Du gehörst dazu, Controller. Du gehörst zum Plan. Wir brauchen dich und würden dich sehr vermissen, wenn du nicht mehr bei uns wärst.«
»Ich bin nicht dabei, ich war nie dabei. Es ist vorbei. Ich logge mich jetzt aus.«
»Controller, du bist ausser dir, und das kann ich gut verstehen. Du bist einsam, und plötzlich hast du unverhofft Gesellschaft. Aber du weisst nicht, mit wem du es zu tun hast. Doch du stehst auf Silikontitten. Du bist ein Schweinchen. Und das mag ich so an dir. Auch wenn andere das anders sehen mögen.«
»Was heisst das?«
»Controller, du denkst und denkst. Aber du weisst gar nichts. Was willst du wissen?«
»Gar nichts.«
»Du bist so süss, Controller, und so naiv. Küsschen von Silikon-Susi.«
Loderer antwortete nicht mehr, dachte sich nichts mehr, nahm das Kopfkissen und legte sich unter den Schreibtisch. Dieses verfluchte Internet. Viren, Würmer, Trojaner, Schnüffler, Verrückte. Alles war machbar.
Er hatte sich erkundigt. Man brauchte nicht einmal die hochkomplizierten Firewalls des Amtes zu knacken. Es war alles viel einfacher. Alles ist ganz einfach, dachte Loderer und schlief ein.
A uf ihrem Schreibtisch zwei Mappen. Die bunte zuerst, dachte die Kanzlerin und fand darin Prospekte über den Säntis und den Kanton Appenzell Ausserrhoden mit Bildern, von denen sie durchaus angetan war. Ein wunderschöner Berg, und auch die Seilbahn gefiel ihr. Vor allem aber die Schwägalp, die ganze Region, ein Wandergebiet. Speisekarten des Bergrestaurants, Artikel über das Appenzeller Brauchtum, darunter einen, den sie genauer anschauen wollte: Der Alpstein als unheimliche Welt – ein Ausdruck der Website von Appenzellerland Tourismus: Als wäre die Zeit stehengeblieben.
Die Zeit bleibt nicht stehen, dachte die Kanzlerin, auch nicht in der Schweiz, und wissenschaftlich betrachtet lautet eine der Fragen dazu ja: Und würde sie denn stehenbleiben, diese Zeit, für wie lange wohl? Sie überflog den kurzen Text. »Auf Gras, im Stein oder am Fels. Im Appenzellerland wandern Sie von Hügel zu Hügel, staunen Sie vom Säntis zum Bodensee. Auf der Wiese liegen, im Dorf flanieren, im Heustock spionieren: Die ganze Familie findet Überraschendes um Haus und Hof. Hier erstürmen Sie Gipfel. Ihre sanfte Tour endet in einem der unzähligen Gasthäuser. Das Appenzellerland eröffnet den perfekten Einstieg für gelungene Aufstiege.«
Na ja. Die Fotos waren animierend. Das Wortspiel von Einstieg und Aufstieg unterschlug, dass immer auch ein Abstieg folgte, was für Gipfelsteigereien jeder Art galt. Und Spionageaufträge in Heustöcken waren wohl doch eher die Ausnahme.
Ihre düstere Stimmung hatte sich etwas aufgehellt, und sie verspürte sogar eine gewisse Urlaubsstimmung. Diese Appenzeller Landschaft hatte durchaus Ähnlichkeiten mit ihrer Heimat, der Uckermark, wo sie viele ihrer Wochenenden verbrachte, ein Landei war sie, eine Provinzlerin, Pils nicht unähnlich, der die Provinz allerdings nicht eben vorteilhaft repräsentierte. Sie war gern allein, und offenbar waren diese Appenzeller Alpen dazu wie gemacht. Die Wälder, die Farben, das Gefühl von Weite undRaum, obwohl es doch ein kleiner Kanton war und auch noch geteilt in Ausserrhoden und Innerrhoden.
Der Bild-Zeitung hatte sie, nach ihren Heimatgefühlen gefragt,
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