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Die Kapuzinergruft

Die Kapuzinergruft

Titel: Die Kapuzinergruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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Monate später konnte ich durch einen Zufall die Ursache dieser Nachsicht erfahren.
    Eines Abends kam ich zu einer ungewohnten Stunde nach Hause. Ich wollte meine Mutter begrüßen, ich suchte sie. Das Mädchen sagte mir, daß sie in der Bibliothek sitze. Die Tür unseres Bibliothekzimmers, das an den Salon grenzte, stand offen, ich brauchte nicht anzuklopfen. Meinen Gruß überhörte die alte Frau offenbar. Ich dachte zuerst, sie sei über dem Buch eingeschlafen. Sie saß überdies mit dem Rücken zu mir, mit dem Gesicht zum Fenster. Ich ging näher, sie schlief nicht, sie las und blätterte sogar eine Seite um, in dem Augenblick, in dem ich an sie herantrat. »Guten Abend, Mama!« sagte ich. Sie sah nicht auf. Ich berührte sie. Sie erschrak. »Wie kommst du jetzt daher?« fragte sie. – »Auf einen Sprung, Mama, ich wollte mir die Adresse Stiasnys heraussuchen.« – »Der hat lang nichts mehr von sich hören lassen. Ich glaub', er ist gestorben.« Der Doktor Stiasny war Polizeiarzt, jung wie ich, meine Mutter mußte mich mißverstanden haben. – »Ich mein' den Stiasny«, sagte ich. – »Gewiß, ich glaub' vor zwei Jahren ist er gestorben. Er war ja schon mindestens achtzig!« – »So, gestorben!« wiederholte ich – und ich wußte nun, daß meine Mutter schwerhörig war. Lediglich dank ihrer Disziplin, jener ungewöhnlichen Disziplin, die uns Jüngeren nicht mehr von Kindheit an auferlegt worden war, gelang ihr diese rätselhafte Stärke, ihr Gebrechen während jener Stunden zu unterdrücken, in denen sie mich zu Hause erwartete, mich und andere. In den langen Stunden, in denen sie wartete, bereitete sie sich auf das Hören vor. Sie selbst mußte ja wissen, daß sie das Alter mit einem seiner Schläge getroffen hatte. Bald – so dachte ich – wird sie ertaubt sein, wie das Klavier ohne Saiten! Ja, vielleicht war damals schon, als sie in einem Anfall von Verwirrung die Saiten hatte herausnehmen lassen, in ihr eine Ahnung ihrer nahenden Taubheit lebendig gewesen und eine vage Furcht, daß sie bald nicht mehr exakte Töne würde vernehmen können! Von allen Schlägen, die das Alter auszuteilen hatte, mußte dieser für meine Mutter, ein wahres Kind der Musik, der schwerste sein. In diesem Augenblick erschien sie mir fast überirdisch groß, entrückt war sie in ein anderes Jahrhundert, in die Zeit einer längst versunkenen heroischen Noblesse. Denn es ist nobel und heroisch, Gebrechen zu verbergen und zu verleugnen.
    Deshalb also schätzte sie Herrn von Stettenheim. Sie verstand offenbar ihn am deutlichsten, und sie war ihm dankbar. Seine Banalitäten ermüdeten sie nicht. Ich verabschiedete mich, ich wollte in mein Zimmer, die Adresse Stiasnys holen. »Darf ich um acht Uhr kommen, Mama?« rief ich jetzt schon mit erhobener Stimme. Es war etwas zu laut gewesen. – »Seit wann schreist du so?« fragte sie. »Komm nur, wir haben Kirschknödel, allerdings Kornmehl.«
    Ich suchte krampfhaft den Gedanken an die Pension zu verdrängen. Meine Mutter als Inhaberin einer Pension! Welch eine abstruse, ja absurde Idee! Ihre Schwerhörigkeit erhöhte noch ihre Würde. Jetzt hörte sie vielleicht gar nicht mehr das Aufklopfen ihres eigenen Stocks, nicht einmal mehr ihre eigenen Schritte. Ich begriff, warum sie so nachsichtig unser Mädchen behandelte, das blond, beleibt und schwerfällig, zu polternden Handlungen neigte, ein braves, stumpfes Kind aus der Vorstadt. Meine Mutter mit Pensionären! Unser Haus mit zahllosen Klingeln, die mir heute schon um so lauter in den Ohren schrillten, als meine Mutter ja nicht imstande sein würde, ihre ganze Frechheit zu vernehmen. Ich hatte sozusagen für uns beide zu hören und für uns beide beleidigt zu sein. – Aber welch anderen Ausweg konnte es geben? – Der Doktor Kiniower hatte recht: Das Kunstgewerbe verschlang eine Hypothek nach der anderen.
    Meine Mutter kümmerte sich nicht darum. Ich allein hatte also, wie man zu sagen pflegt, die Verantwortung. Ich – und eine Verantwortung! Nicht, dass ich feige gewesen wäre! Nein, ich war einfach unfähig. Ich hatte keine Angst vor dem Tod, aber Angst vor einem Büro, einem Notar, einem Posthalter. Ich konnte nicht rechnen, zur Not noch addieren. Meine Multiplikation schon schaffte mir Pein. Ja! Ich und eine Verantwortung!
    Der Herr von Stettenheim indessen lebte unbekümmert, ein schwerfälliger Vogel. Er hatte immer Geld, er borgte nie, er lud im Gegenteil alle meine Freunde ein. Wir mochten ihn nicht, freilich. Wir verstummten

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