Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kapuzinergruft

Die Kapuzinergruft

Titel: Die Kapuzinergruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
Vom Netzwerk:
Reisiger. »Man hat das Glück gehabt, einen russischen Korporal zu töten. Joseph Branco hat ihm ein Bein gestellt und einen Stein auf den Kopf geschlagen. Dann zog ich mir seine Uniform an, nahm sein Gewehr und führte Joseph Branco bis nach Shmerinka. Und da war die Okkupationsarmee, Branco meldete sich sofort. Er hat auch noch kämpfen müssen. Ich bin bei einem guten Juden geblieben, in Zivil. Branco hat die Adresse gehabt. Und wie der Krieg aus war, ist er zu mir gekommen.«
    »Prächtige Armee!« rief Chojnicki, der eben ins Zimmer getreten war, um, wie jeden Tag, Kaffee mit mir zu trinken. – »Und was macht Ihr Sohn Ephraim, der Musiker?«
    »Er braucht keine Musik mehr«, antwortete Manes Reisiger, der Fiaker, »er macht die Revolution.«
    »Wir haben schon ein paar«, sagte Chojnicki. »Nicht, daß Sie glauben, ich hätte etwas dagegen! Aber die Revolutionen von heute haben einen Fehler: Sie gelingen nicht. Ihr Sohn Ephraim wäre vielleicht besser bei der Musik geblieben!«
    »Man braucht jetzt ein Visum für jedes Land extra!« sagte mein Vetter Joseph Branco. »Zeit meines Lebens hab' ich so was nicht gesehn. Jedes Jahr hab ich überall verkaufen können: in Böhmen, Mähren, Schlesien, Galizien« – und er zählte alle alten, verlorenen Kronländer auf. »Und jetzt ist alles verboten. Und dabei hab' ich einen Paß. Mit Photographie.« Er zog seinen Paß aus der Rocktasche und hielt ihn hoch und zeigte ihn der ganzen Runde.
    »Dies ist nur ein Maronibrater«, sagte Chojnicki, »aber sehn Sie her: es ist ein geradezu symbolischer Beruf. Symbolisch für die alte Monarchie. Dieser Herr hat seine Kastanien überall verkauft, in der halben europäischen Welt, kann man sagen. Überall, wo immer man seine gebratenen Maroni gegessen hat, war Österreich, regierte Franz Joseph. Jetzt gibt's keine Maroni mehr ohne Visum. Welch eine Welt! Ich pfeif auf eure Pension. Ich gehe nach Steinhof, zu meinem Bruder!«
    Meine Mutter kam, man hörte ihren harten Stock schon auf der Treppe. Sie hielt es für schicklich, jeden Nachmittag pünktlich um fünf Uhr in unserem Zimmer zu erscheinen. Bis jetzt hatte kein einziger unserer Pensionäre etwas gezahlt. Einmal hatte Chojnicki, ein zweitesmal hatte Szechenyi einen schüchternen Versuch gemacht, ihre Rechnungen zu verlangen. Meine Mutter hatte ihnen darauf gesagt, daß der Hausmeister die Rechnungen mache. Aber es stimmte nicht. Es war eigentlich die Aufgabe Elisabeths. Sie nahm Geld von dem und jenem entgegen, wie es sich traf, und sie bestritt unsere Auslagen, wie es sich traf. Die Klingeln schrillten den ganzen Tag. Wir hatten nunmehr zwei Mädchen. Sie liefen wie die Wiesel drei Stockwerke auf und ab. Ringsum im ganzen Viertel hatten wir Kredit.
    Meine Mutter freute sich über die Klingeln, die sie noch vernehmen konnte, den Lärm, den unsere Gäste veranstalteten, und den Kredit, den ihr Haus genoß. Sie wußte nicht, die arme, alte Frau, daß es gar nicht mehr ihr Haus war. Sie glaubte immer noch, es sei das ihrige, weil es in unserem Zimmer still wurde, wenn sie herunterkam, mit ihren weißen Haaren und ihrem schwarzen Stock. Heute erkannte sie Joseph Branco, und sie begrüßte auch Manes Reisiger. Sie war überhaupt, seitdem wir die Pension eröffnet hatten, leutselig geworden. Sie hätte auch Wildfremde willkommen geheißen. Sie wurde nur immer schwerhöriger, und es schien, als vernichtete langsam das Gebrechen ihren Verstand, und zwar nicht etwa deshalb, weil das Gebrechen sie quälte, sondern deshalb, weil sie so tat, als störe es sie nicht, und weil sie es verleugnete.

XXXI
    Im April des folgenden Jahres bekam Elisabeth ein Kind. Sie brachte es nicht in der Klinik zur Welt. Meine Mutter verlangte, forderte, befahl, daß sie zu Hause gebäre.
    Ich hatte das Kind gezeugt, verlangt, gefordert, befohlen. Elisabeth hatte es gewünscht. Ich liebte damals Elisabeth, und also war ich eifersüchtig. Ich konnte – so bildete ich mir damals ein – die Frau Professor Jolanth Szatmary aus der Erinnerung Elisabeths nicht anders verdrängen oder auslöschen als dadurch, daß ich ein Kind zeugte: das sichtliche Zeugnis meiner Übermacht. Vergessen und ausgelöscht war die Frau Professor Jolanth Szatmary. Aber auch ich, der alte Trotta, war halb vergessen und halb ausgelöscht.
    Ich war nicht der Trotta mehr, ich war der Vater meines Sohnes. In der Taufe nannte ich ihn Franz Joseph Eugen.
    Ich darf sagen, daß ich mich vollends verändert habe seit der Stunde, in der mein

Weitere Kostenlose Bücher