Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
Ihr Leben war viel zu kurz.
Gott hat Giovanni geliebt. Das glaube ich nicht nur, das weiß ich, denn Er hat ihn zu sich gerufen, bevor er seinen Zenit überschritten hatte. Ist das Sein Erbarmen angesichts unseres Strebens nach Erfolg, nach Macht, nach Vollkommenheit, und wenn uns das nicht mehr genügt: nach der Überschreitung unserer eigenen Grenzen, der triumphalen Selbstvernichtung, die uns unvermeidlich ins Inferno führt? Ist das Seine Gnade, in der Blüte des Lebens zu sterben, ohne Schmerzen und mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen, und Alter und Krankheit und geistigen Verfall nicht mehr erleiden zu müssen?
Nun, darüber würde ich den Rest meines Lebens nachdenken – also: nur ein paar Jahre. Denn die restlichen Tropfen des Elixiers, die Gian Francesco Giovanni nicht mehr geben konnte, bevor ich ihm die Karaffe entriss, habe ich weggeschüttet. Ich wollte nicht unsterblich sein, wenn Giovanni nicht bei mir war.
Sein Sterben war gnädig kurz. Er hatte keine Schmerzen, war euphorisch, aber innerlich aufgewühlt. Er redete, versprühte seinen Geist in einem Feuerwerk aus Worten, scherzte mit Girolamo, diskutierte mit mir nur so zum Spaß die These: »Es gibt ein Leben nach dem Tod« und schloss den Disput mit einem fröhlichen » Quod non est demonstrandum, sed erit experiendum – was nicht erst bewiesen werden muss, sondern was ich erfahren werde«. Giovanni wusste, dass er sterben würde. Und er sah dem Tod gelassen entgegen, mit einem zauberhaften Lächeln auf den Lippen.
Gemeinsam erinnerten wir uns an jenen magischen Augenblick, als wir uns im Hof des Palazzo Medici zum ersten Mal sahen. Wir waren beide wie verzaubert. Ich hatte ihn angestarrt, als befürchtete ich, dass dieser wundervolle Mensch im nächsten Augenblick wieder aus meinem Leben verschwinden könnte. Und auch er hatte mich angesehen, unfähig auch nur ein Wort zu sagen oder sich von mir abzuwenden. Es war ein endloser Augenblick in unserem Leben. Und dieser unvergessliche Augenblick war wie unser ganzes Leben gewesen: Wir hatten uns angesehen, verliebt, verzaubert, fasziniert, und waren doch unfähig gewesen, uns aufeinander einzulassen, mit allen Konsequenzen, uns wirklich zu berühren, nicht nur mit den Händen, sondern auch mit den Seelen.
Er starb, wie er lebte: Er ließ los. Erst meine Hand. Dann seine Seele.
Giovanni Pico della Mirandola, bis zum letzten Atemzug im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte, starb in der Nacht des 17. November 1494. Die offizielle Todesursache, die der Prior von San Marco wenige Stunden später während der Totenmesse verkündete, war Herzversagen.
Während Gian Francesco Pico mehr von seiner Enttäuschung als von wirklicher Trauer überwältigt am nächsten Morgen abreiste, begruben wir Giovanni direkt neben Angelo in einer Nische der Basilika von San Marco.
An den feierlichen Exequien, die Fra Girolamo zusammen mit Erzbischof Guillaume Briçonnet in San Marco zelebrierte, nahm auch König Charles von Frankreich teil, der am Vortag im Palazzo Medici Quartier genommen hatte. Und ich, Fra Celestino, hielt während der Messe mit Tränen in den Augen die Leichenrede – eine »Rede über die Würde des Menschen«.
Noch in derselben Nacht verließ ich Florenz. In der Tasche über meiner Schulter trug ich meinen Talar, mein Notizbuch, Giovannis alchemistische Notizen, die Conclusiones und meinen Degen. Die Concordia hatte mir Gian Francesco Pico gestohlen, meinen Schmuck hatte ich bis auf meinen Saphirring bei Girolamo zurückgelassen. Diamanten sind ungeweinte Tränen!, dachte ich. Ich brauchte die Diamanten, Rubine, Smaragde und Perlen nicht mehr, denn ich war keine Medici mehr. Und wenn ich auf der Flucht gefangen genommen wurde, konnten die einzigartigen Schmuckstücke mich verraten.
Die Lebenden und die Toten, Girolamo, Giovanni, Angelo, Lorenzo und sogar den eigensinnigen Fra Celestino ließ ich hinter mir zurück. Kostbare Erinnerungen an eine herrliche Zeit. Eine großartige Vergangenheit als Tochter der Medici: Pflichten, Verantwortung und Disziplin. Aber auch Fehler und Schuld.
Ich schwang mich in den Sattel und trabte durch die Reihen der nach Florenz einmarschierenden Franzosen, durch eine Menge winkender Florentiner, die König Charles lachend und singend als Befreier von der Tyrannei begrüßten – Niccolò Machiavelli und meine Cousins Lorenzino und Giannino standen am Straßenrand, aber sie erkannten mich nicht. Ich galoppierte einer ungewissen, aber deshalb nicht
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