Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
geholt hatte. Medizin?, lachte ich im Stillen: Du Seelendoktor!
Der Staub löste sich in der Hitze des Feuers schnell auf, die resultierende Tinktur war transparent und völlig geruchlos. Sie war, trotz des Alkohols in der Tinktur, nicht brennbar. Und sie fiel auch nach einer Stunde intensiven Anstarrens nicht aus. So weit zur wissenschaftlichen Analyse. Und nun?
»Wir müssen auf Gott vertrauen«, murmelte Girolamo resigniert.
»Das tun wir seit einer Woche«, wies ich ihn schärfer als beabsichtigt zurecht. »Wir flehen Ihn an, aber Er scheint nicht geneigt, deshalb Seine Wunder ein wenig effizienter zu vollbringen.«
Meine Wortwahl überhörte er gnädig. »Du kannst es nicht trinken, um herauszufinden, wie es wirkt«, warnte er mich eindringlich. »Wenn es nun tödlich ist …«
»Wenn dir etwas Besseres einfällt: Sag es mir!«
Er lief wie gehetzt durch die kleine Apotheke: fünf Schritte in die eine Richtung, Kehrtwendung, fünf Schritte in die andere Richtung. Über eine Lösung stolperte er dabei nicht. An der offenen Tür blieb er stehen, sah Gian Francesco Pico unauffällig und betont unabsichtlich im Kreuzgang vor der Apotheke herumlungern, um zu erfahren, woran der Prior und der geheimnisvolle Fra Celestino laborierten, zog unwillig die Stirn in Falten – und traf eine Entscheidung:
» Ich werde es trinken.«
Die Tinktur war, für was ich sie hielt.
Obwohl Giovannis Laboratorium bei der letzten Transmutation explodiert war, hatte die Coniunctio stattgefunden. Als der Alambic platzte, und seine Scherben durch den Raum flogen, war das Elixier fest geworden und als feiner Staub zu Boden gerieselt. Das dachte ich jedenfalls.
Girolamo hatte nach dem Mittagessen in seiner Zelle ein paar Schlucke des Elixiers getrunken. Dann war er ohnmächtig zusammengebrochen, und ich hatte Mühe gehabt, ihn in sein Bett zu legen. Als er am späten Nachmittag wieder erwachte, fühlte er sich entspannt, euphorisch und »sehr lebendig!«. Die Wirkung war so, wie Nicolas Flamel sie mir in Paris beschrieben hatte: Es war wirklich das Lebenselixier!
Obwohl bereits die ersten Franzosen durch die Straßen zogen, um ihre Kreidekreuze an die Häuser zu malen, die sie besetzen würden, wollten wir noch warten. Giovanni schlief, nachdem Gian Francesco ihn verlassen hatte, und wir wollten ihn noch nicht wecken. Er musste bei Kräften sein, wenn er von dem Elixier trank, sonst konnte es ihn umbringen. Schließlich hatten nur wenige Schlucke den gesunden und unversehrten Girolamo in tiefe Ohnmacht sinken lassen.
Der Prior und ich saßen in seiner Zelle und schwiegen gemeinsam. Wir waren uns sehr nahe gekommen in den letzten Tagen, Worte waren überflüssig geworden. Meine Dankbarkeit für das, was er getan hatte, für die Gefahren, die er auf sich genommen hatte, um mir zu helfen und um Giovanni das Leben zu retten, konnte ich mit Worten nicht ausdrücken. Aber er verstand mich auch so.
»Was werdet ihr tun, wenn ihr in Urbino seid?«, fragte er in das Schweigen hinein.
»Nichts«, sagte ich. »Nichts, als das Leben zu genießen.«
Girolamo lachte amüsiert und glaubte mir kein Wort.
»Der Mensch braucht keine Antworten, um Frieden zu finden, Girolamo. Er muss nur mit dem Fragen aufhören. Der einzige Sinn, den unser Leben hat, ist der, den wir selbst ihm geben.«
»Und du bist ein Maestro der Sinnfindung«, lachte er und erhob sich. »Lass uns nach der Messe herausfinden, ob du auch ein Maestro in der Kunst der Heilung bist.«
Girolamos gute Laune war ansteckend. Die Messe, die er zelebrierte, war die ergreifendste, an der ich jemals teilgenommen habe. Nicht weil er wie üblich das Strafgericht Gottes ankündigte, sondern weil er von Gnade und Vergebung predigte!
Nach der Messe gingen wir gemeinsam zur Apotheke, um das Elixier zu holen … und erstarrten.
Das Schloss war während des Gottesdienstes aufgebrochen worden! Wir fanden unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Die Karaffe mit der wasserklaren Flüssigkeit war verschwunden.
Wir sahen uns an, verloren keine Zeit mit Fragen wie »Wer?« und »Warum?«, und stürmten die Treppe hinauf in Giovannis Zelle.
Girolamo, der seinem Freund nicht mehr von der Seite wich, vollzog die Sterbesakramente und nahm ihm die Beichte ab. Auf die Frage nach seinem Glauben antwortete Giovanni: »Ich glaube nicht nur, ich weiß.«
Wen die Götter lieben, den rufen sie bald zu sich. Lorenzo war dreiundvierzig, Angelo vierzig, Giovanni einunddreißig, als sie abberufen wurden.
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