Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
großes, im Wind geblähtes rotes Segeltuch, an dem ein Mensch hing, der sich von irgendwo herabstürzte. Darunter stand ein Wort in Spiegelschrift: Fallschirm.
Fluggerät und Fallschirm, dachte ich kopfschüttelnd. Was für eine Überheblichkeit!
»Leonardo?«, rief ich, während ich in den nächsten Saal ging.
Keine Antwort.
War ich zu früh gekommen? Er hatte mich gebeten, auf ihn zu warten, falls er noch nicht da war. Aber wo, zum Teufel, trieb sich Leonardo um Mitternacht in Mailand herum?
Beinahe wäre ich über die gespannte Schnur gestolpert. Noch während ich über den Sinn eines derartigen Sicherungssystems nachdachte, hörte ich ein leises Zischen direkt neben mir. Ich hatte von Leonardos erschreckendem Humor gehört und war auf alles gefasst – von einer Schlange, die mich in Versuchung führte, nach den verbotenen und gefährlichen Früchten des Wissens zu greifen, bis zu einem Deus ex machina, der mich erschrecken und auf die Probe stellen sollte.
Wagenden hilft das Glück!, dachte ich und wartete ab, was geschehen würde.
Eine kleine Flamme wanderte durch den dunklen Raum, entfernte sich von mir und entzündete zwei schmale Spuren aus Funken sprühendem Schwarzpulver, die wiederum etwas entflammten, das länger als nur einen Augenblick brannte. Im weißlich-blauen Feuerschein erkannte ich Leonardos Weg der Erleuchtung: ein schimmernder Pfad aus flüssigem Quecksilber, der quer durch den Raum zu einer verschlossenen Tür führte. Ein herrlicher Anblick!
Lächelnd erinnerte ich mich an den Weg der Erleuchtung in der Nacht meiner Initiation durch Giovanni: eine lange Kette von Lichtern, die mich bis zur finsteren Bibliothek führte, wo ich geprüft werden sollte. Leonardos Einfall war nicht weniger originell. Aber viel gefährlicher. In dieser Nacht war schon der Weg die Prüfung.
Wenn ich, einem ersten überwältigenden Eindruck folgend, demütig die Schuhe ausgezogen und mit nackten Füßen den Pfad des Lichts beschritten hätte, würde ich die letzte Frage der Prüfung nicht mehr erlebt haben. Das flüssige Quecksilber war hochgiftig. Tödlich! Heute Nacht kann ich mich auf einiges gefasst machen, dachte ich. Die Examination wird nicht einfach! Was hatte Leonardo sich noch einfallen lassen?
Langsam ging ich neben dem Weg der Erleuchtung weiter zur verschlossenen Tür. Sollte ich klopfen, bevor ich eintrat? Ich verwarf den Gedanken und stieß die Tür auf.
Dieser Raum war unverkennbar das Studierzimmer eines Alchemisten. Auf einem Tisch stapelten sich Bücher und gerollte Pergamente. Fasziniert wühlte ich mich immer tiefer in den Bücherhaufen. Welche Schätze des Wissens lagen hier vor mir ausgebreitet!
»Rühr die Bücher nicht an«, hörte ich eine Stimme hinter mir.
Überrascht fuhr ich herum, einen Folianten im Arm. Leonardo stand mit verschränkten Armen in der Tür zum nächsten Raum und sah mir zu, wie ich ohne Erlaubnis in seinen Büchern stöberte.
»Leonardo! Hast du mich erschreckt …«, seufzte ich.
»Wirf es weg!«, befahl er, ohne sich zu rühren.
»Wegwerfen, aber wieso? Das Buch ist wertvoll, einzigartig …«
»Du hast mich verstanden! Wirf das Buch fort, wirf sie alle weg!«
Mit einem dumpfen Knall landete der Foliant auf dem Steinboden des Saales.
»Das war ein Teil der Prüfung, nicht wahr?«, fragte ich. »Was hast du geprüft, Leonardo: meinen Gehorsam?«
»Nein, ich wollte sehen, ob du es schaffst, dich von dem Ballast der Gedanken zu befreien, die nicht deine eigenen sind. Zeig mir dein Notizbuch!«, forderte Leonardo.
Ich zog das Buch aus meiner Tasche, in die ich alles gestopft hatte, was ich wenige Stunden zuvor aus den rauchenden Ruinen meines Laboratoriums gerettet hatte, und gab es ihm. Er blätterte eine Weile darin, las einige Rezepte, Aufzeichnungen zu Transmutationen, flüchtige Gedanken, die ich niedergeschrieben hatte. Schließlich klappte er es zu. »Du bist weit gekommen in diesen drei Jahren, obwohl du das Opus immer wieder neu begonnen hast.«
Ja, dachte ich ein wenig stolz, ich bin mit neunzehn Jahren weiter gekommen, als mancher Adept mit neunzig.
»So, und nun sag mir, welchen Unsinn du bei Giovanni gelernt hast«, verlangte er.
Ich glaubte, mich verhört zu haben: »Unsinn?«
Dann berichtete ich von meiner Lehrzeit bei Giovanni. Er hatte mir die Transformation des suchenden Menschen zu Selbsterkenntnis und Selbsttranszendenz gezeigt. Als handelndes Wesen.
»Giovanni war ein Mystiker. Die Erkenntnisse, die er glaubte, im Rausch der
Weitere Kostenlose Bücher