Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
war!
»Du bist Leonardo?«, fragte ich und gab mir selbst die Antwort: »Leonardo da Vinci!«
Kapitel 10
Ein Fegefeuer der Eitelkeiten
W ohin führst du mich?«, fragte ich, als Leonardo und ich eine Weile schweigend nebeneinanderher gegangen waren. Er marschierte so zielstrebig voran, dass ich kaum mit ihm Schritt halten konnte.
»Woher soll ich das wissen?«, antwortete er, ohne mich anzusehen.
Wollte er mich falsch verstehen? Ich sah ihn forschend an, doch Leonardo wich meinem Blick aus. Er wollte nicht mein Führer sein wie Vergilius, der in der Divina Commedia Dante zu seinem Läuterungsberg geführt hatte. Er wollte nur ein paar Schritte mit mir gehen. Dass er mich dann doch zu meinem Berg führte, damit ich mich von seinem Gipfel ins Inferno meiner Gefühle herabstürzen konnte, entsprang wohl der resignierten Einsicht, dass er mich nicht anders retten konnte …
»Ich meine: Wohin gehen wir?«, korrigierte ich mich.
»Zur Santa Maria delle Grazie«, murmelte er. »Ich arbeite dort.«
Ein paar Schritte vor uns ragte die Kirche in den Himmel – nein, eigentlich die halbe Kirche. Vor einigen Jahren hatte Ludovico il Moro Altarraum und Apsis der Basilika abreißen lassen, um von Donato Bramante eine Grabkapelle für die Sforza errichten zu lassen. Die Kuppel war noch im Bau.
Als wir den Konvent der Dominikaner durch das Seitenportal betraten, fragte er mich: »Woran hast du eigentlich gearbeitet, als dein Laboratorium Feuer fing?«
»An der Separatio. Aber leider nicht besonders erfolgreich.«
»Ach nein?«, grinste er, während wir einen Saal durchquerten. »Und ich dachte, es wäre die beeindruckendste Separatio, die ich je gesehen habe. Ein richtiges Feuerwerk!«
»Und woran laborierst du gerade, Maestro?«, fragte ich.
Er schob mich in das Refektorium von Santa Maria delle Grazie und deutete auf die Wand.
Die eine Seite des Saals war mit dem farbigen Entwurf eines Freskos bedeckt. Leonardo hatte mit durchscheinender Farbe dreizehn Figuren an die frisch verputzte Wand gebannt: Jesus und seine Jünger beim Letzten Abendmahl. Ich legte meine Bücher auf einen Arbeitstisch, dann trat ich näher, um die skizzierten und schwach kolorierten Personen zu betrachten.
Das Bild war ein Zitat aus den Evangelien. Leonardo hatte das Letzte Abendmahl in dem Augenblick festgehalten, als Jesus verkündete: »Einer unter euch wird mich verraten.« Die Dramatik des Entwurfs entstand aus den unterschiedlichen Reaktionen der Jünger auf diese furchtbare Ankündigung: Mutlosigkeit, Trauer, Wut, Verzweiflung, Verwirrung, Entsetzen, Erbitterung, Hoffnungslosigkeit und Unglauben. Aber auch die Bereitschaft zu handeln: Petrus neigt sich vor, um dem Jünger neben Jesus etwas zuzuflüstern, und stößt dabei Judas zur Seite. Selbst seine düsteren, satanischen Züge wirken betroffen. Er scheint zu fragen: »Bin ich es, Rabbi?«
Die Haltung, die Perspektive und die Farbigkeit des Entwurfes sind das Werk eines wahren Maestro, dachte ich.
»Was glaubst du zu sehen?«, fragte Leonardo, der mich mit abwartend verschränkten Armen beobachtet hatte.
Was ich zu sehen glaubte? Welch eine Frage!
»Du hast das Abendmahl im dramatischsten Augenblick gemalt.« Ich trat einen Schritt an die Skizze heran, die an manchen Stellen nur schemenhaft zu erkennen war, um zu sehen, was Petrus in der Hand hielt. Und um Judas in die Augen zu sehen – wohin blickte er?
»Und was siehst du wirklich in diesem Bild?«, wollte Leonardo wissen.
»Die Separatio. Du arbeitest wie ich an der Separatio «, erklärte ich. »Das Letzte Abendmahl ist Jesu Trennung von der Welt.«
Leonardo beobachtete mich – amüsiert, wie mir schien.
»Dein Fresko ist ein verschlüsseltes Lehrbuch der Alchemie«, erklärte ich bewundernd. »Die Jünger sind die zwölf möglichen Transmutationen, für die – bis auf die letzten drei – keine Reihenfolge vorgeschrieben ist. Die letzten drei Transformationen sitzen direkt neben Jesus: Petrus, die Separatio, vor ihm eine Hand mit dem Messer, dem Symbol der Trennung. Dann: Judas, die Mortificatio, die Tötung der Materie. Daneben der Lieblingsjünger mit zum Gebet gefalteten Händen: die Coniunctio. Schließlich Jesus selbst, das Ziel der Läuterung: das Elixirium vitae .«
»Ich bin beeindruckt von deinen analytischen Fähigkeiten«, gestand Leonardo zufrieden lächelnd.
»Und ich bin beeindruckt von deiner unglaublichen Impertinenz. Du malst Maria Magdelena als Lieblingsjünger: als ob sie und Jesus miteinander
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