Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
die enge Wendeltreppe hinauf in Girolamos Verlies. Ein Wächter öffnete die schwere Tür des Gefängnisses, und ich trat ein. Hinter mir wurde das eiserne Schloss wieder verriegelt.
Girolamo kauerte auf dem Steinboden, den Rücken gegen die Wand gelehnt, auf den Knien mehrere Pergamente. Als er mich im Schein der Fackel sah, ließ er vor Schreck Feder und Tintenfass fallen und hob beide Arme. »Lass mich in Ruhe!«, schrie er mich an. »Hör auf, mich zu quälen!« Dann griff er nach dem ausgelaufenen Tintenfass und warf es nach mir. Geschwächt und gebrochen von der Folter, hatte er nicht genug Kraft, mich zu treffen. Aber die Tinte spritzte über mein Gesicht und den schwarz-weißen Habit.
Ich bewegte mich nicht, um ihn nicht noch mehr in Panik zu versetzen, und die Tinte lief wie kalte Tränen über mein Gesicht. »Ich bin nicht Satan«, flüsterte ich sanft.
Girolamo war zerbrochen, körperlich wie geistig. Er lehnte sich zitternd gegen die Wand und wich vor mir zurück, als ich einen Schritt näher treten wollte. »Verschwinde!«, brüllte er mich an. »Lass mich in Frieden!«
Er rang um seinen Glauben – nicht den an Gott, denn den hatte er nie verloren, sondern den Glauben an sich selbst. Sein Gewissen lastete wie ein schwarzer Schatten auf ihm. Wie im Delirium brüllte er: »Erlöse mich, o Herr!«
Ich kniete mich neben ihn und packte ihn bei den Schultern. »Girolamo, bitte beruhige dich. Ich bin es: Celestino.«
Er starrte mich an, als hätte ich Hebräisch mit ihm geredet. Im Schein der Fackel suchten seine Augen die meinen. Dann erkannte er mich endlich. »Celestino!«, flüsterte er bewegt. »Warum bist du zurückgekommen?« Er ergriff meine ausgestreckten Hände und zog mich zu sich auf den Steinboden.
»Ich bringe dir die Absolution.«
»Von Papst Alexander?«, fragte er zweifelnd. Aber war das ein Schimmer von Hoffnung in seiner Stimme?
»Nein, Girolamo. Du hast ihm, indem du ihn exkommuniziert hast, jedes Recht abgesprochen, dir zu vergeben.«
»Von wem ist dieser Brief?«, fragte Girolamo, als ich ihm Rodrigos Zeilen in die Hand drückte. Er kniff die Augen zusammen und las im Schein der Fackel die wenigen Worte, die Rodrigo eigenhändig auf das Pergament gekritzelt hatte. Als er die Unterschrift sah, brach Girolamo in Tränen aus. Immer wieder flog sein Blick über den Brief, und er zitierte schluchzend den letzten Satz:
»Girolamo, ich vergebe dir. Rodrigo Borgia.«
Dann brach Girolamo unter Tränen zusammen, als sei dies die größte Demütigung seines Lebens. Der Mensch Rodrigo hatte ihm vergeben, der Papst Alexander VI . konnte es nicht.
Ich legte ihm den Arm um die Schulter und ließ ihn weinen, bis er sich beruhigte und mit dem Ärmel seines Habits die Tränen aus dem Gesicht wischte.
»Würdest du mit mir beten, Celestino?«, bat er mich.
»Ich bin kein Priester«, wandte ich ein.
»Nein, du bist viel mehr. Ein Freund.« Er griff nach einem Haufen ungeordneter Pergamente, die neben ihm lagen. »Seit ich auf meine Hinrichtung warte, habe ich über den fünfzigsten Psalm Miserere meditiert. Würdest du mit mir im Gebet die ersten Zeilen meiner Gedanken lesen?«
Ich kniete mich neben ihn auf den kalten Boden des Verlieses und las gemeinsam mit ihm:
»Ich Unglücklicher verging mich gegen den Himmel und die Erde und stehe jetzt allein und ohne Hilfe da. Wohin soll ich gehen? Wohin mich wenden? Zu wem soll ich fliehen? Wer wird sich meiner erbarmen? Zum Himmel wage ich meine Augen nicht zu erheben, denn schwer habe ich mich gegen Dich versündigt, o Herr. Und auf der Erde finde ich keine Zuflucht mehr. Was bleibt mir zu tun? Soll ich zweifeln? Niemals! Denn Du bist barmherzig. So komme ich voll Schmerz und Reue zu Dir, denn Du allein bist noch meine Hoffnung. Sei mir gnädig in Deiner unendlichen Güte! Schenke mir Frieden!«
Girolamo bekreuzigte sich nach dem Amen. »Glaubst du, Er vergibt mir meine Irrtümer und Verfehlungen?« Er wich meinem Blick aus, als fürchtete er sich vor der Antwort.
»Du bist Sein Prophet. Warum sollte Er dir nicht vergeben?«
Girolamo seufzte: »Ich bin kein Prophet, Celestino, und ich war nie einer, obwohl ich es selbst lange geglaubt habe. Ich hielt mich für von Gott erwählt, Seinen unerforschlichen Willen zu erkennen. Ich hielt mich für ausersehen, Sein Wort zu verkünden und schließlich wegen des Unglaubens der Menschen daran zugrunde zu gehen wie alle Propheten vor mir. Jetzt weiß ich nicht mehr, was Gott wollte und was nicht, und was
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