Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
»Dann seid Ihr Caterina. Euer Bruder erwähnte Euren Namen. Giulio ist nicht mehr hier.«
Der Prior wollte gehen, doch dann sah er meine Enttäuschung: Giulio war in San Marco gewesen! Er blieb stehen, schon halb abgewandt. »Er bedeutet Euch sehr viel.« Ein Lächeln huschte über Fra Girolamos bleiches, ausgezehrtes Gesicht, umspielte seine zerbissenen Lippen und blieb in seinen unergründlichen blauen Augen hängen, ein Lächeln, das seine harten Züge sanfter erscheinen ließ. »Für mich ist Giulio der Sohn, den ich nie haben werde«, gestand der Prior. »Ich weiß, es fällt Euch schwer, das zu glauben – nach all dem, was Ihr während der Predigt gehört habt. Aber ich liebe Giulio wie meinen Sohn. Ich wollte, dass er es besser macht als ich …« Der Frater hielt inne, schien mit sich zu ringen, was er mir erzählen sollte.
»Wo ist Giulio?«, fragte ich in das Schweigen hinein.
»Er wollte zum Priester geweiht werden«, erklärte Fra Girolamo. »Er bat mich, seinen Beichtvater, um meinen Segen. Ich habe ihn zum Erzbischof von Florenz geschickt, denn ich bin nicht berechtigt, die Priesterweihe durchzuführen. Das war vor vier Tagen. Inzwischen ist Giulio wohl in Rom angekommen.«
»In Rom?«, fragte ich.
»Er brach auf, um mit Erzbischof Orsini zu sprechen. Und der ist zurzeit im Vatikan, um dem Papst die Füße zu küssen, damit er ihn zum Kardinal ernennt. Vielleicht ist er auch schon Kardinal und nur so erschöpft von seinen vielen Verpflichtungen im Vatikan, dass er kaum das Bett verlassen kann, um es Florenz mitzuteilen.« Fra Girolamos Ironie ließ keinen Zweifel daran, wie er über die Aufsehen erregende Affäre des Erzbischofs dachte, über die sich Florenz seit Wochen amüsierte.
»Verdammt!«, fluchte ich unbeherrscht und schlug bestürzt die Hand vor den Mund, als ich Fra Girolamos Gesicht sah. Es kam wohl nicht oft vor, dass in seiner Gegenwart geflucht wurde.
Aber der Frater lachte herzlich über meinen Zorn. Das Eis zwischen uns schien zu tauen: » Wen verdammt Ihr, Caterina? Die unheilige Kirche oder Euren nach Heiligkeit strebenden Bruder?«
»Euch, Fra Girolamo, verdamme ich«, rief ich zu seiner Überraschung. »Weil Ihr ihn gehen ließet.«
Der Frater ging einige Schritte den Kreuzgang entlang, und als ich ihm nicht folgte, blieb er stehen und drehte sich zu mir um. »Ich habe ihn gehen lassen«, nickte er. »Giulio hat mir seine Seelenqualen gestanden – und seinen Wunsch, Priester zu werden. Ich habe ihm die Absolution erteilt und ihn nach Rom geschickt. Das ist die Wahrheit – Eure Version der Wahrheit. Meine Version ist ein wenig ausführlicher.«
»Ich würde sie gern hören.«
»Giulio hat gebeichtet, nachdem er zu mir kam, und ich habe das Ego te absolvo gesprochen. Danach sind wir im Garten von San Marco spazieren gegangen, und ich habe versucht, Giulio zur Vernunft zu bringen. Unser Gespräch dauerte vier Stunden. Es war Mitternacht, als Giulio sich entschloss, die Nacht im Kloster zu verbringen und im Morgengrauen nach Rom aufzubrechen, um den Erzbischof um seine Weihe zu bitten. Ich habe Giulio gehen lassen.« Er schwieg einen Augenblick und sah mir in die Augen. »Aber Ihr, Caterina, habt dasselbe getan.«
»Ich?«, entfuhr es mir.
»Ihr sagtet zu Giulio: ›Ich brauche niemanden, der versucht, mich vor mir selbst zu schützen – er wird scheitern! Ich will in meinem Leben keine andere Rolle spielen als mich selbst. Denn ich bin der ich bin!‹« Bestürzt sah ich den Prior an, aber er lächelte geheimnisvoll: »Über das alttestamentliche Zitat ›Ich bin der ich bin‹ werden wir im Garten von San Marco sprechen, Caterina. Ich freue mich auf unsere Dispute und hoffe, dass Angelo Polizianos heidnische Ideen Euren Verstand nicht verwirrt haben. Denn ich würde gern herausfinden, wer das ist: ›Der Ich Bin‹.«
Er trat zu mir und ergriff meinen Arm, um mich durch den Kreuzgang zu führen. Während wir nebeneinander gingen, nahm er die Kapuze seines Skapuliers ab und verschränkte die Hände in den Ärmeln seines Habits. Die schwarzen Perlen des Rosenkranzes an seinem Gürtel klickten bei jedem Schritt.
»Ich möchte Euch eine Geschichte erzählen. Es ist keine Heiligenlegende, keine Berufung eines Propheten, kein Evangelium. Die Geschichte heißt ›Die Leiden des jungen Girolamo‹. Es gab einmal eine Zeit, da hatte ich Angst, furchtbare Angst vor dem Leben. Ich war unglücklich verliebt gewesen, hatte wegen einer jungen Frau mein Medizinstudium
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