Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
entfuhr es ihm. Er sprang auf, stieß dabei seinen Stuhl um, der laut polternd zu Boden fiel, und eilte zu mir herüber, um ins Feuer zu starren. »Ist das …?«
»Ja, das ist es«, flüsterte ich ergriffen.
Es war ein langer Weg, dachte ich. All die Leiden waren nur die geistige Vorbereitung auf diesen wundervollen Augenblick, um ihn würdigen zu können. Wie das ganze Leben doch immer nur die Vorbereitung auf einen einzigen Augenblick unbeschreiblicher Glückseligkeit war, den man nur in seiner ganzen unfasslichen Schönheit erfahren konnte, wenn man das Leiden kennen gelernt hatte, das Unglück, den Schmerz, die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit, die Trennung vom Geliebten.
»Du hast es geschafft!«, rief Rodrigo. »Unglaublich: Das ist das Elixirium vitae! Wie es in den Büchern beschrieben wird!«
Mein Herz raste vor Erregung. Wie gebannt stand ich vor dem Athanor und starrte in die kleine Phiole hinein, in der sich das goldfarbene ha-Our in das wasserklare al-Iksir verwandelte. Ohne Explosion!, dachte ich verwirrt. Verwundert. Und so ergriffen von der Bedeutung dieses Augenblicks, dass ich nicht länger über diese Tatsache nachdachte. Ein verhängnisvoller Fehler!
Wie von Sinnen vor Glück dachte ich: O Gott, ich danke Dir für Deine Barmherzigkeit, mich zu retten, mir im letzten Augenblick mein Leben zu schenken, meinen Seelenfrieden! Ich werde leben! Mein Werk vollenden!
Wie hatte ich mich zwölf Jahre lang nach diesem Augenblick gesehnt! Welche Leiden hatte ich auf mich genommen, um dieses letzte, dieses schönste aller Ziele zu erreichen! Die Suche, das endlose Fragen war vorbei! Endgültig vorbei! Ich hatte die Antwort gefunden! Ich war so überwältigt von meinem Glück, dass meine Knie zu zittern begannen, und ich mich an Rodrigo festhalten musste.
An mir vorbei trat er ganz nah an den Athanor. Beinahe hätte seine Soutane Feuer gefangen. Wie gebannt starrte er auf die wasserklare Flüssigkeit. Dann griff er zu der Metallzange, um die hermetisch versiegelte Phiole aus den glühenden Klammern zu lösen. Mit einer zweiten Zange hob er die Phiole aus der Hitze des Feuers.
»Endlich!«, flüsterte er, wandte sich ab und ließ mich stehen, um die Phiole zum Tisch zu tragen.
Ich folgte ihm, misstrauisch: Warum gab er sie mir nicht? Es war mein al-Iksir! Sollte sich nun bewahrheiten, was ich all die Monate befürchtet hatte? Nein, nicht das! Nein, Rodrigo, zwinge mich nicht zu tun, was ich nicht tun will!
Ich trat ihm in den Weg: »Bitte gib mir die Phiole!«, verlangte ich mit ausgestreckter Hand.
»Nein!« Er schüttelte den Kopf und wollte an mir vorbeigehen.
»Rodrigo, du weißt, wie dringend ich das Elixier brauche, um zu leben …«, flehte ich ihn an, aber er beachtete mich nicht und ging zum Schreibtisch hinüber, um die Phiole dort abzulegen.
Ich war traurig, unendlich traurig. Die Stunde meines größten Triumphes war die Stunde meiner Niederlage. Natürlich würde Rodrigo nicht zulassen, dass ich diese einzige Phiole Lebenselixier trank! Ich hatte es doch die ganze Zeit gewusst. So wie er. Ich war traurig und enttäuscht, derart benutzt, betrogen, ja: verraten worden zu sein. Sein Nein war mein Todesurteil!
»Rodrigo …«, begann ich erneut. »Bitte gib mir die Phiole!«
Er wich einen Schritt zurück, als ich langsam mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging. »Niemals!«
Mit einer schnellen Bewegung, die ich während meiner Fechtstunden mit Baldassare, mit Ludovico, mit Guido tausend Mal geübt hatte, zog ich meinen Dolch aus dem Ärmel, warf mich gegen ihn, sodass er überrascht zurücktaumelte, drückte ihn mit dem Gewicht meines Körpers gegen den Arbeitstisch, setzte meinen Dolch an seine Kehle. Dann zog ich seine eigene Klinge aus der Scheide an seinem Gürtel und warf sie in hohem Bogen auf die andere Seite des Laboratoriums, wo sie klappernd zu Boden fiel.
»Rodrigo, ich habe keine Wahl …«, drohte ich ihm. »Gib mir das, was mir gehört!«
»Nein!«, ächzte er mit der Klinge meines Dolches an seiner Kehle.
Er wusste, dass ich ihn nicht kaltblütig töten würde. Und ich wusste, dass er das glühend heiße Elixier nicht trinken konnte. Noch nicht! Und selbst wenn es abgekühlt gewesen wäre, hätte ihn die Dosis ohnmächtig zusammensinken lassen – wie damals Girolamo in San Marco, als er nur einen Schluck von Giovannis Elixier getrunken hatte. Ich könnte Rodrigo dann in meinem rachsüchtigen Zorn töten. Nein, er konnte es jetzt nicht trinken! Und ich konnte ihn
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