Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
nahm, im Schein der Kerzen betrachtete und wieder zurückstellte.
»In der Alchemie musst du deinen eigenen Weg gehen, nicht den eines anderen. Jeder Alchemist wählt seine eigene Prima Materia, seien es Rosenblätter oder Gold. Jeder von uns geht seinen eigenen Weg, auf dem ihm niemand folgen kann. Entscheidend für den Erfolg ist deine Geisteshaltung, deine Fähigkeit, dich auf die vor dir liegende Aufgabe zu konzentrieren, deine Selbstbeherrschung in der Meditation.«
Giovanni hatte Recht: Jeder von uns war seinen eigenen, einsamen Weg der Erkenntnis gegangen. Giovanni erhob sich durch seinen eigenen Willen zu Gott, um seine verlorene Seele zu suchen und die Liebe: das Verschmelzen mit Gott und die erotische Zärtlichkeit, nach der er sich so qualvoll sehnte. Leonardo entzauberte die Welt, zerlegte sie wie einen Deus ex machina, um sie anschließend – ohne Deus – in einem seiner Modelle en miniature nachzubauen: nicht weniger gefährlich und Furcht erregend als vorher. Aber eben ohne Gott. Mein Weg war … ist der längste von allen, weil ich nacheinander jeden Weg ging …
Giovanni hatte gefunden, was er suchte. Er reichte mir eine kleine Glasphiole, ohne dass sich unsere Finger dabei berührten. Ich zog den Korken heraus und atmete den köstlichen Duft ein. »Was ist das?«, fragte ich, wie berauscht.
»Es stammt aus dem alten Ägypten. Der wichtigste Bestandteil ist die Lotosblüte, aber der schwere Duft kommt eigentlich vom Nilschlamm. Ich habe das Rezept in einem alten Papyrus aus Alexandria gefunden. Die ägyptischen Tempelpriester benutzten dieses Parfum, während sie die Toten einbalsamierten. Ich möchte, dass du es trägst, während wir zusammen arbeiten.« Er wich meinem Blick aus. »Dein Duft würde mich zu sehr irritieren, wenn du neben mir stehst … und mich an die letzten Stunden erinnern«, sagte er. »Ich bin der Vollkommenheit noch nie so nahe gewesen!« Abrupt wandte er sich ab und kehrte zum Alambic mit den kochenden Rosenblüten zurück.
Dann erklärte er mir, dass wir während unserer Arbeit im Laboratorium Latein miteinander sprechen würden. Latein sei die Sprache der Wissenschaft. Sobald Angelo mich die griechische Grammatik gelehrt habe, würden wir uns auf Griechisch unterhalten, der Ausdrucksweise der Philosophie. »Und danach werde ich dich Hebräisch lehren, die Sprache der Religion«, kündigte er an.
»Die Alchemie ist keine Zauberei, keine schwarze Magie, kein Pakt mit Satan. Und sie ist auch nicht die Ars Aurifera, die Kunst des Goldmachens«, erklärte er mir. »Die Alchemie ist eine umfassende Wissenschaft: Sie ist Magie und damit experimentelle Naturwissenschaft. Sie ist die Philosophie, die nach dem Sinn, nach dem Sein, dem Wesen der Welt und der Stellung des Menschen im Universum fragt, die Ewige Philosophie, die allen Philosophen und allen Propheten der Welt gemeinsam ist. Sie ist Religion. Kunst. Meditation. Und geistige Entwicklung.«
»Also die Suche nach Vollkommenheit?«, fragte ich.
»Das Streben nach Vollkommenheit ist eines der furchtbarsten Leiden, die den Menschen befallen können«, warnte Giovanni. »Seine Symptome sind der Verlust der Selbstbeherrschung und des vernünftigen Denkens.«
Er zeigte mir seine Abschrift der Tabula Smaragdina. Der Legende nach wurde sie von Alexander dem Großen im Grab des ägyptischen Tempelpriesters Hermes Trismegistos gefunden. Er war der Begründer der Alchemie. Ursprünglich war die Tabula Smaragdina wohl eine Steintafel, auf der die hermetischen Gesetze, die die Welt zusammenhielten, eingeritzt waren. Als ich die heiligen Worte zum ersten Mal las, war ich verwirrt, denn sie ergaben keinen Sinn. Schon die erste Forderung des Hermes Trismegistos an seine Nachfolger war nicht erfüllbar: Verum, sine mendacio, certum et verissimum. Denn wie kann ein Alchemist »aufrichtig, ohne Täuschung, seines Selbst sicher und der Wahrheit verpflichtet« sein, wenn er sich durch einen undurchdringlichen Nebel von Geheimnissen, Wortspielen und Irreführungen, wie der der Fähigkeit zur Herstellung von Gold, vor der Verfolgung schützen muss?
Die Nacht ging viel zu schnell zu Ende, und der Morgen graute. Ich ritt nach Florenz zurück und versprach Giovanni, am Nachmittag, nach meiner Griechisch-Lektion bei Angelo und meiner Arbeit in der Bibliothek, zu ihm zurückzukehren.
»Du warst heute Nacht bei Giovanni, nicht wahr?«, fragte Lorenzo eine Stunde später beim gemeinsamen Frühstück.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen,
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