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Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)

Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Materie während der Mortificatio, sei das höchste Ziel des Alchemisten, deren Resultat das Leben selbst sei: al-Iksir, das Elixirium vitae.
    Nach all den Schicksalsschlägen, nach all den Leiden der letzten Jahre weiß ich nun: Mein ganzes Leben war ein Opus Magnum – von der Solutio, dem Eintauchen in der Familie Medici, und der Auflösung von allem, was Caterina Vespucci zuvor ausgemacht hatte, von der Kristallisation meiner Persönlichkeit in den folgenden erbarmungslosen Transformationen der kommenden Jahre in Mailand und Rom – solve et coagula! –, bis zur Mortificatio, dem tragischen Tod von Papst Alexander, als er mir 1503 das Elixirium wegnahm, um es selbst zu trinken, und bis zur Coniunctio, der endgültigen Vereinigung mit meinem Geliebten.
    Gott, der Große Alchemist, hat sein Werk an mir vollbracht. Er hat mich geprüft wie ein Stück Metall, das im Athanor erhitzt wird, um alles Überflüssige wegzubrennen, das Weiche, Nachgiebige herauszuschmelzen, um es zu formen, um es härter zu machen. Wenn es zerbricht, war es wertlos. Wenn es besteht, kann es zu einer scharfen Waffe geschmiedet werden. Gott hielt sich nicht zurück mit seinen grausamen Schlägen. Damals habe ich Ihn deshalb verflucht. Aber heute danke ich Ihm für seine Erbarmungslosigkeit, denn ich habe überlebt …
    Beim gemeinsamen Abendessen gab Giovanni mir noch eine Einführung in die Ewige Philosophie, in der sich der Glaube aller Religionen und das Wissen aller Philosophien zu etwas denkbar Undenkbarem vereinigt hatten: einer Wahrheit mit tausend Facetten.
    Bevor ich in den Palazzo Medici zurückkehrte, nagelte er die erste These, über die wir disputieren wollten, an die Tür seines Laboratoriums: » Tat tvam asi – Das bist du«. Als er mein verdutztes Gesicht sah, erklärte er mir, das sei ein Spruch aus einer buddhistischen Sutra: Du bist wie Gott. Dann ergriff er eine Feder und kritzelte etwas darunter: »Ich und der Vater sind eins.«
    In den letzten Jahren hat Giovanni von zu vielen Früchten der Erkenntnis genascht, dachte ich in diesem Augenblick. Aber die Früchte, die er in den nächsten Wochen an mich weiterreichte, damit auch ich meinen Hunger nach Wissen an ihnen stillte, schmeckten wunderbar und machten mich satt.
    Giovanni lehrte mich den Unterschied zwischen Sehen, Erkennen und dem Durchschauen des Unsichtbaren – des Weltgesetzes –, zwischen Hören, Verstehen und dem unbedingten Gehorsam gegenüber dem Unhörbaren – dem göttlichen Willen –, zwischen Fühlen, Wahrnehmen und dem Wahrmachen meiner Träume.
    Er lehrte mich die Meditation und die Entwicklung der Willenskraft und erklärte mir den zweifachen Weg des Alchemisten. Die rein physische Veränderung der Prima Materia, die durch das Feuer transmutiert wird, bis sie zum al-Iksir wird, und die Veränderung des Alchemisten selbst durch Meditation, den Blick nach innen, durch Konzentration seiner selbst und Entwicklung seiner Willenskraft, sich und die Materie im Alambic zu beeinflussen.
    Die Außenwelt sah immer nur die exoterische Tätigkeit im Laboratorium, die Operationen im Feuer des Athanors, doch die inneren Operationen des Alchemisten, die Reifung seiner Seele, blieben ihr verborgen. Uneingeweihte konnten nicht einmal ahnen, dass diese esoterische Wandlung in der Einsamkeit des Laboratoriums überhaupt stattfand – als Voraussetzung für die exoterische Verwandlung der Materie durch Willenskraft. Was sie sahen – oder zu sehen glaubten – waren geheimnisvolle Magie und satanische Praktiken.
    »Lass dich nicht beirren auf deinem Weg zur Vollkommenheit«, ermahnte mich Giovanni. »Er ist schwierig, anstrengend und wird all deine körperlichen und seelischen Kräfte fordern. Du wirst stolpern und stürzen, immer wieder vom Weg abkommen und dich verirren. Aber hör nicht auf diejenigen, die dir sagen, wohin du gehen sollst. Denn das entscheidest allein du. Dein einziger Führer ist deine Intuition. Vertraue dir selbst! Erkenne, was in dir selbst liegt, und handele entsprechend! Und du wirst sein wie Gott.«

    Wir trafen uns jeden Tag. Meist fand ich Giovanni lesend im Laboratorium, während er darauf wartete, dass sich die Substanz im Alambic veränderte. Warten, sagte er, sei die erste Lektion eines Alchemisten. Die zweite Lektion sei zu erkennen, wann der richtige Augenblick gekommen sei, damit aufzuhören.
    Anfang November, sechs Wochen nach meiner Rückkehr aus Pisa, war für mich die Zeit des Wartens vorbei, und aus einem unbestimmten Ahnen,

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