Die Kartause von Parma
Zitadelle nur eine einzige Treppe gab und daß ein Wachtmeister jede Nacht um zwölf Uhr die Ziehtaue zu allen Brunnen der Zitadelle in einer Stube ablieferte, die man nur durch das Schlafzimmer des Kommandanten betreten konnte, war dieser in seinem Palazzo völlig abgeschlossen; ebenso konnte keine Menschenseele zur Torre Farnese gelangen. Das hatte Fabrizzio bei seiner Ankunft in der Zitadelle gründlich erkannt; obendrein hatte es ihm Grillo, der wie alle Gefängniswärter gern mit seinem Kerker prahlte, mehrfach vorgehalten. So hatte er keine rechte Hoffnung auf Flucht. Gleichwohl erinnerte er sich, irgendwo einmal gelesen zu haben: »Der Liebende denkt viel mehr daran, zu seiner Geliebten zu gelangen, als der Ehemann daran, seine Frau zu bewachen, der Gefangene viel mehr an die Flucht als der Gefängnisaufseher an das Verschließen der Türen. Folglich müssen, trotz allen Hindernissen, der Liebende wie der Gefangene zum Ziele kommen.«
An jenem Abend vernahm Fabrizzio deutlich, wie eine große Anzahl Menschen über die Eisenbrücke ging, die sogenannte Sklavenbrücke, weil es vor Zeiten einem dalmatinischen Sklaven gelungen war, zu entweichen, indem er den Brückenwächter in die Tiefe stürzte.
»Da ist etwas im Gange!« dachte Fabrizzio. »Man will jemanden gewaltsam holen. Vielleicht mich? Irgend etwas ist nicht in Ordnung; das muß ich ausnutzen.« Er griff nach seinen Waffen und suchte bereits ein paar seiner Goldstücke aus ihren Verstecken hervor. Mit einem Male hielt er inne.
»Der Mensch ist ein spaßiges Tier,« sagte er sich laut, »das muß man zugeben! Was würde ein unsichtbarer Beobachter sagen, der meine Vorbereitungen sähe? Will ich mich etwa retten? Und was wird anderntags aus mir, wenn ich wieder in Parma bin? Würde ich nicht alles aufs Spiel setzen, um wieder in Clelias Nähe zu kommen? Wenn etwas nicht in Ordnung ist, will ichs benutzen, mich in die Kommandantur zu schleichen; vielleicht kannich Clelia sprechen, vielleicht darf ich ihr bei der Verwirrung sogar die Hand küssen. Der General Conti, von Natur sehr mißtrauisch und ebenso eitel, läßt seinen Palazzo von fünf Posten bewachen, einen an jeder Ecke des Gebäudes und den fünften am Tor. Aber zum Glück ist die Nacht stockfinster.«
Schleichend wie ein Luchs, sah Fabrizzio nach, was Grillo und sein Hund machten. Der Aufseher lag in tiefem Schlummer in einer Rindshaut, die an vier Stricken hing und von einem groben Netz umgeben war. Fox, der Bullterrier, blinzelte mit den Augen, richtete sich auf, sah Fabrizzio gutmütig an und wedelte mit dem Schwanze.
Unser Gefangener stieg leise die sechs Stufen zu seinem Holzkäfig wieder hinauf. Der Lärm am Fuße der Torre Farnese und genau vor deren Tor wurde so stark, daß Fabrizzio dachte, Grillo müsse aufwachen. Den Dolch in Bereitschaft, gefaßt zur Tat, glaubte Fabrizzio, die Nacht bringe ihm große Abenteuer, als er mit einem Male hörte, wie die schönste Sinfonie der Welt anhob. Man brachte dem Kommandanten oder seiner Tochter ein Ständchen. Fabrizzio bekam einen tollen Lachanfall. ›Und da dachte ich schon daran, Dolchstöße auszuteilen! Als ob eine Serenade nicht etwas weitaus Alltäglicheres wäre als eine Entführung, wozu man in einem Gefängnis wohl an die achtzig Menschen brauchte oder gar eine Meuterei. 0139 Die Musik war vorzüglich und kam Fabrizzio köstlich vor. Seine Seele hatte seit so vielen Wochen keine Zerstreuung gehabt; er wurde zu Tränen gerührt. In seiner Wonne richtete er an Clelia die unwiderstehlichsten Worte. Aber am anderen Tage, zur Mittagszeit, fand er sie derartig schwermütig, düster und blaß und aus ihren Blicken war so viel Unmut herauszulesen, daß er sich nicht berechtigt fühlte, sie wegen des Ständchens zu befragen; er fürchtete, unhöflich zu sein.
Clelia hatte allen Anlaß, betrübt zu sein. Die Serenade hatte ihr der Marchese Crescenzi gebracht. Eine so öffentliche Huldigung war gewissermaßen die Verlobungsanzeigein aller Form. Bis zu dieser Serenade, bis neun Uhr abends, hatte Clelia den heftigsten Widerstand geleistet, aber dann war sie schwach geworden; ihr Vater hatte gedroht, sie auf der Stelle ins Kloster zu schicken, und sie hatte nachgegeben.
»Ach, ich soll ihn nicht mehr sehen!« hatte sie weinend geklagt. Vergeblich hatte ihr dann die Vernunft zugeflüstert: »Du siehst einen Menschen nie wieder, der dir in jeder Hinsicht Unglück bringt: den Liebhaber der Duchezza, einen leichtsinnigen Mann, der in Neapel zehn
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