Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kartause von Parma

Die Kartause von Parma

Titel: Die Kartause von Parma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
Vom Netzwerk:
von Buchstaben, die insgesamt folgendes ergaben:
    ICH LIEBE DICH, UND DAS LEBEN IST MIR NUR KOSTBAR, WEIL ICH DICH SEHE. SCHICKE MIR VOR ALLEM PAPIER UND EINEN BLEISTIFT!
    Ganz wie es Fabrizzio gehofft hatte, hinderte die grenzenlose Angst, die er aus Clelias Zügen las, das junge Mädchen, die Unterhaltung nach dem so verwegenen Wort »Ich liebe dich!« abzubrechen. Sie begnügte sich damit, sich stark verstimmt zu zeigen. Fabrizzio hatte den klugen Einfall, fortzufahren:
    BEI DEM STARKEN WIND, DER HEUTE GEHT, HABE ICH DIE WARNUNG, DIE SIE MIR GÜTIGST ZUSANGEN, NUR TEILWEISE VERSTANDEN. DER KLANG DES KLAVIERS ÜBERTÖNT DIE STIMME. WAS BEDEUTET ZUM BEISPIEL DAS GIFT, VON DEM SIE SPRACHEN?
    Bei diesem Worte kehrte die ganze Angst des jungen Mädchens wieder. Sie begann eiligst Seiten aus einemBuche herauszureißen und mit Tinte große Buchstaben darauf zu malen. Fabrizzio war außer sich vor Freude, als er sie dieses seit drei Monaten so vergeblich ersehnte Verständigungsmittel endlich gebrauchen sah. Wohlweislich wandte er die kleine List, die ihm so gute Dienste geleistet hatte, weiterhin an; er tat alle Augenblicke, als verstünde er die Worte nicht recht, deren Buchstaben Clelia ihm nach und nach vor die Augen hielt.
    Sie war gezwungen, die Vogelstube zu verlassen und zu ihrem Vater zu eilen; sie fürchtete vor allem, er könne sie hier suchen wollen. Sein argwöhnischer Sinn wäre von der nahen Nachbarschaft der Vogelstube mit dem Schirm vor dem Fenster des Gefangenen wenig erbaut gewesen.
    Clelia hatte eine Weile vorher, als Fabrizzios Nichterscheinen sie in eine so tödliche Unruhe versetzte, selber den Gedanken gehabt, man könne einen kleinen Stein, mit Papier umwickelt, in den Trichter des Fensterschirmes werfen. Wenn nicht zufällig gerade der Aufseher Fabrizzios in seiner Zelle weilte, war das ein sicheres Verkehrsmittel.
    Unser Gefangener stellte schleunigst eine Art Band aus seiner Wäsche her, und abends hörte er kurz nach neun Uhr ein leises Klopfen an den Orangenkübeln, die unter seinem Fenster standen. Er ließ sein Band hinunter, das ihm einen dünnen, langen Strick zuführte, mit dessen Hilfe er zunächst einen Vorrat an Schokolade und dann zu seiner unsagbaren Befriedigung eine Rolle Papier und einen Bleistift heraufzog. Vergebens ließ er den Strick zum dritten Male hinunter. Er bekam nichts weiter. Offenbar hatten sich die Posten den Orangenbäumen genähert. Aber er war trunken vor Freude. Eiligst schrieb er einen endlosen Brief an Clelia. Kaum war er fertig, so band er ihn an seinen Strick und ließ ihn hinab. Drei Stunden lang wartete er vergeblich, daß er abgeholt werde. Mehrere Male zog er ihn wieder herauf, um Änderungen darin zu machen. ›Wenn Clelia meinen Brief nichtnoch heute abend liest,« sagte er sich, »da sie durch den Gedanken an das Gift so gerührt ist, wird sie vielleicht morgen früh von einem Briefe nichts mehr wissen wollen!«
    Tatsächlich hatte Clelia es nicht vermeiden können, mit ihrem Vater in die Stadt zu fahren. Fabrizzio bekam aber erst eine Ahnung davon, als er gegen halb ein Uhr den Wagen des Generals heimkehren hörte. Er kannte den Gang der Pferde. Dann vernahm er, wie der General über die Plattform kam und die Schildwachen präsentierten. Wie groß war seine Freude, als er einige Minuten später merkte, daß der Strick, den er noch immer um den Arm geschlungen hielt, sich bewegte. Es wurde etwas sehr Schweres daran befestigt; zwei kleine Rucke gaben ihm das Zeichen, er solle ihn hinaufziehen. Er mußte sich ziemlich anstrengen, die Last um den weit vorspringenden Sims unter seinem Fenster herumzubringen. Der Gegenstand, den er mit solcher Mühe heraufzog, war eine Flasche Wasser, die in ein Tuch eingeschlagen war. Voller Entzücken bedeckte der arme junge Mann, der seit so langer Zeit in völliger Einsamkeit lebte, dieses Tuch mit seinen Küssen. Wir können seine Wallung nicht weiter ausmalen. Schließlich entdeckte er nach so vielen Tagen vergeblichen Hoffens ein Zettelchen, das mit einer Nadel an das Tuch angesteckt war: »Trinken Sie nur dieses Wasser! Leben Sie von der Schokolade! Morgen werde ich alles versuchen, um Ihnen Brot zukommen zu lassen. Ich werde es an allen Seiten mit kleinen Tintenkreuzen kenntlich machen. Es ist gräßlich zu sagen, aber Sie müssen es wissen: Vielleicht hat Barbone den Auftrag, Sie zu vergiften. Haben Sie nicht gefühlt, daß das Thema, das Sie in Ihrem Bleistiftbriefe berühren, dazu angetan ist, mir zu

Weitere Kostenlose Bücher