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Die Kartause von Parma

Die Kartause von Parma

Titel: Die Kartause von Parma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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Vogelstube, sah alle seine Zeichen und antwortete ihm des öfteren, zum mindesten mit dem Ausdrucke der innigsten und aufrichtigsten Teilnahme. Für Augenblicke verließ sie ihn, um ihre Tränen zu verbergen. Ihre weibliche Gefallsucht fühlte so recht die Unzulänglichkeit der angewandten Zeichensprache. Wenn sie miteinander hätten sprechen können, mit wieviel verschiedenen Mitteln hätte sie dann nicht ganz genau zu ergründen versucht, welche Art die Gefühle waren, die Fabrizzio der Duchezza gegenüber hegte! Clelia vermochte sich fast keiner Täuschung mehr darüber hinzugeben: sie haßte die Sanseverina.
    Eine Nacht dachte Fabrizzio ernstlich an seine Tante. Zu seinem Erstaunen fiel es ihm schwer, sich ihr Bild zu vergegenwärtigen. Die Erinnerung an sie hatte sich vollständig verändert. In dieser Stunde war sie für ihn eine Fünfzigjährige.
    »Großer Gott,« rief er voller Begeisterung, »welch ein guter Geist hat mir eingegeben, ihr nicht von Liebe zu reden!« Er war nahe daran, es nicht mehr begreifen zu können, daß er sie so hübsch gefunden hatte. Die Erinnerung an die kleine Marietta war weniger verändert, und zwar, weil er sich nie eingebildet hatte, daß bei seiner Liebelei mit Marietta seine Seele irgendwie in Mitleidenschaft gezogen wäre, während er oft geglaubt hatte, sie gehöre völlig der Duchezza. Die Herzogin von Albarocca und Marietta kamen ihm jetzt vor wie junge Tauben, deren ganzer Reiz in ihrer Unschuld und Zartheit lag. Dagegen erfüllte das leuchtende Bild Clelias all sein Inneres, ja es flößte ihm einen Schauer ein. Er fühlte nurzu gut, daß sein weiteres Lebensglück ihn zwingen werde, auf die Tochter des Kommandanten zu hoffen, und daß es in ihrer Macht stehe, ihn zum unglücklichsten Sterblichen zu machen. Tag für Tag hatte er die tödliche Angst, irgendeine Laune, die von seinem Willen nicht abhinge, könne diesem seltsamen und köstlichen Leben, das er in Clelias Nähe gefunden hatte, ein jähes Ende bereiten. Jedenfalls hatte es ihn in den ersten acht Wochen seiner Gefangenschaft beseligt. Das war zu der Zeit, als der General Fabio Conti wöchentlich zweimal Serenissimus berichtete: ›Ich kann Eurer Hoheit mein Ehrenwort geben, daß der Sträfling del Dongo mit keiner Menschenseele spricht. Er verbringt sein Dasein in tiefer Niedergeschlagenheit und Verzweiflung, oder er schläft.‹
    Clelia kam zwei- bis dreimal täglich, um nach ihren Vögeln zu sehen, bisweilen nur für Augenblicke. Wenn Fabrizzio sie nicht so sehr geliebt hätte, dann hätte er wohl bemerkt, daß er geliebt wurde, aber er hegte in dieser Hinsicht tödliche Zweifel. Clelia hatte in die Vogelstube ein Klavier stellen lassen. Wenn sie die Tasten anschlug, damit der Klang des Instruments ihre Gegenwart anzeigte und die Schildwache unter seinen Fenstern beschäftigte, antwortete sie mit den Augen auf Fabrizzios Fragen. Nur auf eines ging sie nie ein, und gelegentlich ergriff sie deshalb sogar die Flucht und ließ sich einen ganzen Tag lang nicht sehen: verrieten Fabrizzios Zeichen nämlich Gefühle, die zu verstehen nicht allzu schwierig war, dann war sie unerbittlich.
    Obwohl Fabrizzio in einem ziemlich engen Käfig eingesperrt saß, war somit sein Leben recht beschäftigungsreich. Besonders suchte er nach der Lösung des so bedeutungsvollen Rätsels: ›Liebt sie mich?‹ Das Ergebnis von tausend Beobachtungen, die er unaufhörlich erneuerte und die ihn doch ebenso unaufhörlich zweifeln ließen, war folgendes: ›Alle ihre absichtlichen Gesten sagen nein, aber das Unwillkürliche im Spiel ihrer Augen scheint zu verraten, daß sie mir freundschaftlich gesinnt ist.‹
    Clelia hoffte sehr, daß es nie zu einem Geständnis käme, und um dieser Gefahr vorzubeugen, hatte sie mit übermäßigem Zorn eine Bitte zurückgewiesen, die Fabrizzio mehrfach an sie richtete. Die Kläglichkeit der von dem armen Gefangenen angewandten Hilfsmittel hätte Clelia eigentlich zu mehr Mitleid stimmen müssen. Er wollte mit ihr durch Buchstaben reden, die er mit einem Stück Kohle – diesen wertvollen Fund verdankte er dem kleinen Ofen – auf seine Hand gemalt hatte; durch Buchstabenfolgen hätte er Wörter gebildet. Diese Erfindung hätte die Mittel zur Unterhaltung verdoppelt, indem sie zur Mitteilung bestimmter Dinge geführt hätte. Sein Fenster war von dem ihrigen ungefähr fünfundzwanzig Fuß entfernt, aber eine mündliche Unterhaltung wäre angesichts der Schildwachen, die vor der Kommandantur auf und ab

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