Die Kartause von Parma
wagte sie sich immer weniger der Gefahr auszusetzen, ihm Gelegenheit zu geben, ihr die volle Wahrheit über seinen Herzenszustand zu gestehen. Und doch, wie süß wäre ihr das Geständnis seiner wahren Gefühle gewesen, wie glücklich wäre Clelia geworden, wenn der gräßliche Argwohn verscheucht worden wäre, der ihr das Leben vergiftete!
Fabrizzio war leichtsinnig. In Neapel hatte er den Ruf gehabt, seine Geliebten ziemlich rasch zu wechseln. Trotz aller Zurückhaltung, die ihr die Rolle einer vornehmenjungen Dame aufzwang, zumal sie Stiftsdame war und bei Hofe ein und aus ging, hatte Clelia, ohne je Fragen zu stellen, nur durch aufmerksames Zuhören, den Ruf der jungen Männer erfahren, die nacheinander um ihre Hand geworben hatten. Fabrizzio aber war im Vergleich zu ihnen allen derjenige, der in Herzensangelegenheiten den größten Leichtsinn an den Tag legte. Er saß im Kerker, langweilte sich und machte dem einzigen weiblichen Wesen in Sehweite den Hof. Was war natürlicher? Was zugleich gemeiner? Das war es, was Clelia so tief betrübte. Selbst wenn sie durch eine offene Beichte erfahren hätte, daß Fabrizzio die Duchezza nicht mehr liebte, welches Vertrauen hätte sie in die Dauerhaftigkeit seiner Gefühle setzen können? Und endlich, was die Hoffnungslosigkeit ihres Herzens auf die Spitze trieb: war Fabrizzio nicht in seiner geistlichen Laufbahn schon sehr weit vorgerückt? Stand er nicht nahe davor, sich durch ewige Gelübde zu binden? Harrten seiner nicht die höchsten Würden seines Standes? »Wenn mir nur ein Schimmer von gesundem Menschenverstand verbliebe,« sagte sich die unglückliche Clelia, »müßte ich dann nicht die Flucht ergreifen? Müßte ich nicht meinen Vater anflehen, mich in das fernste Kloster einzusperren? Und um das Elend voll zu machen, ist es gerade die Furcht, fern von der Zitadelle zu leben und in ein Kloster eingeschlossen zu sein, die mich leitet! Gerade diese Furcht zwingt mich zur Heuchelei, nötigt mich zu der häßlichen und entehrenden Lüge, mich zu stellen, als ob ich die Huldigungen und öffentlichen Aufmerksamkeiten des Marchese Crescenzi annähme.«
Clelias Wesen war in hohem Grade besonnen; in ihrem ganzen Leben hatte sie sich keinen unüberlegten Schritt vorzuwerfen, aber ihr Benehmen in diesem Falle war der Inbegriff aller Unvernunft. Danach kann man sich einen Begriff von ihren Leiden machen. Sie waren um so grausamer, als sie sich keiner Täuschung hingab. Sie hing an einem Manne, der in die schönste Frau am Hofe sinnlosverliebt war, in eine Frau, die ihr mit soviel Berechtigung überlegen war. Und dieser Mann war an und für sich, selbst wenn er frei gewesen wäre, einer ernstlichen Neigung unfähig, während sie nur allzusehr fühlte, daß sie nie im Leben eine andere Liebe hegen könne.
So ward Clelias Herz von den gräßlichsten Gewissensbissen gequält, wenn sie tagtäglich in die Vogelstube kam, wohin es sie wider Willen zog. Dort wechselte der Anlaß ihrer Unruhe; dort ward diese weniger quälend. Ihre Gewissensqualen hörten vorübergehend auf, und mit unsagbarem Herzklopfen harrte sie des Augenblicks, da Fabrizzio das selbstgeschaffene Guckloch im Fensterschirm öffnete. Oft verbot die Anwesenheit des Aufsehers Grillo in seiner Zelle, daß er sich mit seiner Freundin durch Zeichen unterhielt.
Eines Abends gegen elf Uhr hörte Fabrizzio Geräusche sonderbarster Art in der Zitadelle. Er hielt den Kopf an das Guckloch, und es gelang ihm, festzustellen, daß der ziemlich starke Lärm auf der Haupttreppe, den sogenannten dreihundert Stufen, gemacht wurde, die vom Vorhof im Inneren des breiten Turmes zur gepflasterten Plattform hinaufführten, wo, wie wir wissen, die Kommandantur und die Torre Farnese, Fabrizzios Gefängnis, standen.
Etwa in halber Höhe, nach hundertachtzig Stufen, ging die Treppe in der Richtung von Süden nach Norden über einen schachtartigen Hof. Dort befand sich eine sehr schmale, leichte eiserne Brücke, auf deren Mitte ein Pförtner seinen Platz hatte, der alle sechs Stunden abgelöst wurde. Er mußte aufstehen und sich an das Geländer drücken, wenn jemand den von ihm bewachten Steg überschreiten wollte. Weder zur Kommandantur noch zur Torre Farnese führte ein anderer Weg. Man brauchte nur zweimal ein Schloß zu schließen, dessen Schlüssel der Kommandant bei sich trug, und die eiserne Brücke stürzte in eine Tiefe von mehr als hundert Fuß hinab. Durch diese einfache Vorrichtung sowie dadurch, daß esin der ganzen
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