Die Kartause von Parma
das zweite Fenster zur Flucht. Es lag über dem Dach eines großen Wachtraumes. Dank seinem närrischen Einfall hatte der kranke General, sobald er wieder sprechen konnte, eine Kompanie Grenadiere für diesen seit hundert Jahren nicht mehr benutzten Wachtraum angefordert. Er meinte, nachdem man versucht habe, ihn zu vergiften, wolle man ihn in seinem Bett ermorden, und diese zweihundert Soldaten sollten ihn bewachen. Man kann sich denken, welche Wirkung diese unerwartete Maßnahme in Clelias Herzen hervorrief. Das fromme Mädchen wußte sehr wohl, in wie hohem Maße es seinen Vater verriet, noch dazu, als er gerade zur Rettung des von ihr geliebten Gefangenen beinahe vergiftet worden war. Fast erblickte sie in der unerwarteten Ankunft der Kompanie einen Wink der Vorsehung, die ihr verbot, noch mehr zu wagen und Fabrizzio zur Flucht zu verhelfen.
Aber in Parma sprach jedermann von dem nahen Tode unseres Helden. Man hatte dieses traurige Thema sogar bei der Hochzeitsfeier der Giulia Crescenzi erörtert. Da ein Mann von Fabrizzios Herkunft wegen einer solchen lächerlichen Kleinigkeit wie einem ungeschickten Degenstoß nach einem Komödianten nach Ablauf von neun Monaten Gefängnis und bei der Fürsprache durch den Premierminister nicht begnadigt worden war, so mußten politische Gründe mitspielen. Dann sei es unnütz, sich weiterhin mit ihm zu beschäftigen, hatte man gemeint. Wenn es der Regierung nicht angängig erscheine, ihn öffentlich hinzurichten, so werde er alsbald an einer Krankheit sterben. Ein Schlossergeselle, der in der Kommandantur zu tun gehabt hatte, sagte von Fabrizzio, ersei längst ins Jenseits befördert; man verschweige seinen Tod nur aus politischen Gründen. Die Aussage dieses Menschen brachte Clelias Entschluß zur Reife.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Den Tag über wurde Fabrizzio von verschiedenen ernsten und unangenehmen Überlegungen heimgesucht; aber in dem Maße, wie er die Stunden schlagen hörte, die ihn dem Augenblick der Tat näher brachten, fühlte er sich froher und munterer. Die Duchezza hatte ihm geschrieben, die frische Luft werde ihn sehr angreifen, und er werde draußen kaum noch gehen können. Sollte das der Fall sein, so solle er sich doch lieber wieder ergreifen lassen, statt von einer hundertachtzig Fuß hohen Mauer abzustürzen. ›Wenn mich dieses Unglück packt,‹ sagte sich Fabrizzio, ›so will ich mich auf der Mauerkrone hinlegen und eine Stunde schlafen; dann fange ich von neuem an. Da ich es Clelia geschworen habe, falle ich lieber von der Höhe einer Mauer hinunter, mag sie noch so hoch sein, als daß ich mir Tag für Tag Gedanken über den Geschmack des Brotes mache, das ich zu essen bekomme. Was für gräßliche Qualen mag man auszuhalten haben, bis man bei einer Vergiftung endlich stirbt! Fabio Conti wird dabei nicht besonders wählerisch sein; er läßt mir Arsenik beibringen, womit man die Ratten in der Zitadelle vertilgt.‹
Gegen Mitternacht legte sich dichter weißer Nebel, wie ihn die Po-Niederung zuweilen ausdünstet, erst über die Stadt und stieg dann zu dem Wall und den Basteien auf, in deren Mitte der mächtige Unterturm der Zitadelle liegt. Fabrizzio glaubte wahrzunehmen, daß man von der Brustwehr der Plattform aus nicht bis zu den Akazienbüschen hinuntersehen konnte, die die Soldatengärten zu Füßen der hundertachtzig Fuß hohen Mauer einfaßten. ›Das ist prächtig!‹ dachte er bei sich.Kurz nachdem es halb ein Uhr geschlagen hatte, leuchtete das Zeichen der kleinen Lampe am Vogelstubenfenster auf. Fabrizzio war zur Tat bereit. Er schlug ein Kreuz; dann befestigte er an seiner Bettstelle das kleine Seil, das zum Hinabklettern der fünfunddreißig Fuß bestimmt war, die ihn von der Plattform trennten. Ohne Unfall gelangte er auf das Dach des alten Wachtraumes, wo seit einem Tage die zweihundert Mann Verstärkung hausten. Unglücklicherweise waren die Soldaten um drei Viertel ein Uhr – so spät war es nun – noch nicht eingeschlafen. Während Fabrizzio wie eine Katze über die runden Ziegel schlich, hörte er sagen, der Teufel sitze auf dem Dach; man solle versuchen, ihn mit einer Flintenkugel herunterzuschießen. Etliche Stimmen behaupteten, ein solches Verlangen sei gottlos; andere meinten, wenn man schösse, ohne etwas zu erlegen, würde der Kommandant sie alle miteinander in Arrest stecken, weil sie die Besatzung unnützerweise alarmiert hätten. Diese schöne Unterhaltung bewirkte, daß Fabrizzio so schnell wie möglich über das Dach
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