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Die Kartause von Parma

Die Kartause von Parma

Titel: Die Kartause von Parma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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hingerichtet werde. An solchen Tagen erhalten die Gefangenen die Erlaubnis, die Plattform des mächtigen Turmes zu betreten, die hundertundachtzig Fuß über der Ebene liegt, und von da zuzuschauen, wie ein Zug dahinwallt, bei dem ein Spitzel die Rolle eines zur Richtstätte schreitenden armen Sünders spielt.«
    Solche und andere Geschichten von derselben Art und nicht geringerer Glaubwürdigkeit machten auf die Gräfin Pietranera lebhaften Eindruck. Tags darauf bat sie den Grafen Mosca um nähere Angaben und machte ihre Scherze darüber. Sie fand ihn unterhaltsam und verziehihm, daß er im Grund und ohne es selber zu wissen, ein Ungeheuer war.
    Eines Tages sagte der Graf, als er in seinen Gasthof heimkam: »Die Gräfin Pietranera ist nicht nur eine reizende Frau, sie bringt es sogar zuwege, daß ich an den Abenden, da ich in ihrer Loge bin, gewisse Dinge von Parma vergesse, deren Erinnerung mir einen Stich ins Herz versetzt.« Der Minister hatte trotz seiner leichten Art und seinen glänzenden Umgangsformen keine französische Seele; er konnte seine Sorgen nicht vergessen. Wenn sein Pfühl einen Dorn barg, mußte er ihm die Spitze abbrechen, und wenn er sich dabei noch so weh tat. Ich bitte um Entschuldigung für diese Wendung aus dem Italienischen.
    Der Tag nach jener Entdeckung kam dem Grafen, obwohl er in Mailand allerlei Geschäfte hatte, endlos lang vor. An keinem Ort hielt er es lange aus; kein Wagen fuhr ihm schnell genug. Gegen sechs Uhr nahm er sich ein Reitpferd und ritt über den Korso, in der schwachen Hoffnung, der Pietranera zu begegnen. Da er sie dort nicht erblickte, fiel ihm ein, daß die Scala um acht Uhr geöffnet wurde. Er ging hin, fand aber in dem Riesensaal keine zehn Personen. Er schämte sich gewissermaßen, daß er da war. ›Ist es möglich,‹ sagte er sich, ›daß ich mit meinen fünfundvierzig Jahren Torheiten begehe, über die ein junger Leutnant errötet? Zum Glück ahnt sie kein Mensch.‹ Er machte, daß er wieder hinauskam, und versuchte, sich die Zeit damit zu vertreiben, daß er durch die hübschen Straßen schlenderte, die das Theater umgeben. Es gibt in ihnen zahlreiche Kaffeehäuser, die um diese Stunde von Menschen wimmeln; vor jedem dieser Lokale sitzt eine Menge Neugieriger auf Stühlen mitten auf der Straße, schlürft Sorbetti und bekrittelt die Vorübergehenden. Der Graf fiel auf, zumal er das Vergnügen hatte, erkannt und angesprochen zu werden. Drei oder vier Aufdringliche von der Sorte, die man nicht los wird, benutzten die Gelegenheit, sich bei dem allmächtigen MinisterGehör zu verschaffen. Zwei andere überreichten ihm Bittschriften. Ein dritter begnügte sich damit, ihm langatmige politische Ratschläge zu geben.
    ›Mit viel Geist‹, sagte er sich, ›kann man nicht schlafen und mit viel Macht nicht ungestört spazieren gehen.‹ Er kehrte wieder in die Scala zurück und kam auf den Einfall, eine Loge im dritten Rang zu nehmen. Von dort aus konnte er unbeobachtet die Loge im zweiten Rang überblicken, in der er die Gräfin zu sehen hoffte. Zwei volle Stunden des Harrens kamen dem Verliebten nicht zu lang vor. Sicher, nicht gesehen zu werden, überließ er sich voller Behagen so recht seiner Torheit. ›Zeigt sich das Alter nicht vor allem daran, daß man solcher köstlicher Kindereien nicht mehr fähig ist?‹
    Endlich erschien die Gräfin. Mit Entzücken betrachtete er sie durch sein Opernglas. ›Jung, glänzend, behend wie ein Vogel‹, sagte er sich. ›Sie ist keine fünfundzwanzig alt. Dabei ist ihre Schönheit ihr geringster Reiz. Wo wäre eine gleich aufrichtige Seele zu finden, die niemals mit Vorbedacht handelt, die sich ganz der Eingebung des Augenblicks hingibt, die nur danach trachtet, immer von etwas Neuem begeistert zu werden? Ich begreife die Narreteien des Grafen Nani.‹
    Der Graf dachte so sehr daran, das Glück zu erobern, das er vor seinen Augen sah, daß er treffende Gründe fand, ein Tor zu sein. Er fand weniger gute, als er darauf sein Alter in Betracht zog und die Sorgen, die sein Leben manchmal recht trübselig machten. ›Ein schlauer Mensch, dem nur die Angst den Verstand benimmt, gewährt mir eine hohe Stellung und viel Geld, solange ich sein Minister bin; aber wenn er mich morgen entläßt, dann sitze ich alt und arm da, bin also der verächtlichste Tropf der Welt. Ein schöner Liebhaber für solch eine Frau!‹ Derlei Gedanken waren zu düster. Er dachte immer wieder an die Pietranera. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden,

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