Die Kartause von Parma
Gesellschaft des Städtchens Romagnano. Seine Schlichtheit galt für Hochmut; man wußte mit diesem Sonderling nichts anzufangen. »Er ist mißvergnügt, weil er nicht der Erstgeborene seines Hauses ist«, meinte der Pfarrer.
Sechstes Kapitel
Wir wollen freimütig gestehen, daß die Eifersucht des Kanonikus Borda nicht ganz grundlos war. Nach seiner Heimkehr aus Frankreich erschien Fabrizzio der Gräfin Pietranera wie ein schöner Fremdling, den sie früher einmal gut gekannt hatte. Hätte er Liebesworte gesprochen, dann hätte sie ihn wiedergeliebt, zumal sie für sein Verhalten und für seine Art eine leidenschaftliche, ja grenzenlose Bewunderung hegte. Aber Fabrizzio umarmte sie in so ungemein harmloser Dankbarkeit und unbefangener Zuneigung, daß sie sich vor sich selber geschämt hätte, wenn sie hinter dieser geradezu kindlichen Freundschaft ein anderes Gefühl gesucht hätte. ›Im Grunde‹, sagte sich die Gräfin, ›mögen mich etliche Freunde, die mich vor sechs Jahren am Hofe des Fürsten Eugen gekannt haben, noch hübsch und sogar noch jung finden, doch für ihn bin ich die achtbare Tante und ohne jegliche Schonung meiner Eigenliebe muß ich es wohl sagen – ein Frau von Jahren.‹ Die Gräfin täuschte sich in der Beurteilung des Alters, das sie erreicht hatte, aber nicht in der Weise alltäglicher Frauen. ›In seinen Jahren‹, fügte sie hinzu, ›sieht man die Spuren der Zeit übertriebener, als sie wirklich sind; ein Mann von reiferer Lebenserfahrung hingegen...‹
Die Gräfin war in ihrem Salon auf und ab gegangen, dann blieb sie vor einem Spiegel stehen und lächelte. Man muß wissen, daß das Herz der Gräfin Pietranera seit ein paar Monaten durch eine seltsame Persönlichkeit ernstlich bestürmt wurde. Kurze Zeit nach Fabrizzios Abreise nach Frankreich war die Gräfin in tiefe Schwermut verfallen. Ohne daß sie es sich recht gestand, hatte sie sich viel mit ihm zu beschäftigen begonnen. Alles, was sie tat, erschien ihr reizlos und, wenn man so sagen darf, ohne Saft und Kraft. Sie glaubte, Napoleon, der seine italienischen Untertanen an sich fesseln wollte, werde Fabrizzio in seine persönliche Umgebung nehmen.
»Er ist für mich verloren!« rief sie weinend. »Nie werde ich ihn wiedersehen! Er wird mir Briefe schreiben, aber was bin ich ihm in zehn Jahren?«
In dieser Gemütsverfassung unternahm sie eine Reise nach Mailand; sie hoffte, dort genauere Nachrichten über Napoleon und, wer weiß, vielleicht auch auf Umwegen über Fabrizzio zu erhalten. Ihre tatenlustige Seele war des eintönigen Daseins, das sie auf dem Lande führte, bereits überdrüssig. ›Das ist tödliche Langweile, aber kein Leben!‹ sagte sie sich. Tag für Tag sah sie dieselben gepuderten Köpfe, den Bruder, den Neffen Ascanio und deren Kammerdiener! Was waren die Spaziergänge am See ohne Fabrizzio? Ihr einziger Trost lag in ihrer innigen Freundschaft mit der Marchesa. Aber seit einiger Zeit begann ihr diese Freundschaft zur Mutter Fabrizzios, die älter als sie war und vom Leben nichts mehr erwartete, nicht mehr so viel Freude zu machen.
Seit Fabrizzios Abreise war die Gräfin Pietranera in dieser sonderbaren Stimmung. Von der Zukunft erhoffte sie nicht viel; ihr Herz bedurfte des Trostes und neuer Anregung. Nach Mailand zurückgekehrt, fand sie ein leidenschaftliches Vergnügen an der neueren Oper; stundenlang schloß sie sich einsam in die Loge des Generals Scotti, ihres alten Freundes, ein. Die Menschen, deren Gesellschaft sie aufsuchte, um Nachrichten über Napoleon und seine Armee zu erfahren, kamen ihr gewöhnlich und grob vor. Zu Hause improvisierte sie dann auf ihrem Klavier bis drei Uhr morgens.
Eines Abends wurde ihr in der Loge einer ihrer Freundinnen, wo sie Neuigkeiten aus Frankreich einholen wollte, der Graf Mosca, Minister von Parma, vorgestellt, ein Weltmann, der über Frankreich und Napoleon in einer Weise plauderte, die ihrem Herzen neuen Stoff zu Hoffnungen und Befürchtungen gab. Am Abend darauf suchte sie diese Loge wieder auf. Der geistvolle Mann war ebenfalls da, und während der ganzen Vorstellung unterhielt sie sich mit ihm auf das beste. Seit FabrizziosWeggang hatte sie noch keinen Abend so angenehm verlebt.
Der Mann, der sie zu unterhalten verstand, der Graf Mosca della Rovere Sorezana, war damals Kriegs-, Polizei- und Finanzminister jenes berüchtigten Fürsten von Parma, Ernsts IV., berüchtigt wegen seiner Strenge, die von den Liberalen von Mailand als Grausamkeit bezeichnet wurde.
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