Die Kartause von Parma
Marietta. Schon von weitem vernahm er die grobe Stimme Gilettis, der Wein aufgefahren hatte und sich mit seinen Freunden, dem Souffleur und dem Lampenputzer, daran gütlich tat. Die Mammaccia war die einzige, die auf sein Zeichen antwortete.
»Allerhand Neuigkeiten für dich!« sagte die Alte. »Zwei oder drei Schauspieler von uns sind angeklagt, den Geburtstag des großen Napoleon durch ein wüstes Gelage gefeiert zu haben. Nun ist unsere arme Truppe als jakobinisch verschrieen und hat Befehl erhalten, das Gebiet von Parma zu verlassen. Es lebe Napoleon! Der Minister soll Zaster gespendet haben. So viel ist gewiß, Giletti hat Geld, ich weiß nicht, wieviel, aber ich habe eine Handvoll Taler bei ihm gesehen. Marietta hat von unserem Direktor fünf Taler Reisegeld bis Mantua und Venedig bekommen und ich einen. Sie ist immer noch ganz verschossen in dich; aber Giletti schüchtert sie ein. Vor drei Tagen, bei der Abschiedsvorstellung, die wir gegeben haben, wollte er sie durchaus umbringen. Er hat ihr zwei tüchtige Maulschellen gegeben und – das ist abscheulich– ihr blaues Kopftuch zerrissen. Wenn du ihr ein blaues Kopftuch schenken wolltest, wärst du ein guter Kerl; wir würden sagen, wir hätten im Lotto gewonnen. Morgen gibt der Fechtmeister von den Karabinieri ein Fechtspiel; die Zeit wirst du an allen Straßenecken angeschlagen finden. Komm und besuche uns! Er geht in die Vorstellung, und so können wir hoffen, daß er nicht so bald zurückkommt. Ich werde am Fenster sein und dir ein Zeichen geben, heraufzukommen. Vergiß nicht, uns etwas recht Nettes mitzubringen! Und Marietta liebt dich leidenschaftlich!«
Als Fabrizzio die Wendeltreppe der elenden Bude hinunterstieg, war er ganz zerknirscht. ›Ich bin in keiner Beziehung ein anderer geworden‹, sagte er sich. ›Die guten Vorsätze, die ich am Ufer unseres Sees gefaßt hatte, als ich das Leben mit Philosophenaugen betrachtete, sind wie weggeblasen. Meine Seele hatte sich über die Alltagsstimmung erhoben. Alles das war ein schöner Traum, der vor der rauhen Wirklichkeit zerfließt.‹
›Jetzt wäre der Augenblick der Tat da!‹ sagte sich Fabrizzio, als er gegen elf Uhr in den Palazzo Sanseverina zurückkehrte. Aber umsonst suchte er in seinem Herzen nach dem Mut zu jener erhabenen Aufrichtigkeit, die ihn in der Nacht am Ufer des Corner Sees so leicht gedünkt hatte. ›Ich werde das Wesen erzürnen, das ich am meisten auf der Welt liebe. Wenn ich rede, werde ich mich wie ein schlechter Komödiant benehmen. Ich tauge wirklich nur in gewissen Augenblicken der Begeisterung etwas!‹
»Der Graf benimmt sich mir gegenüber bewundernswert«, sagte er zur Duchezza, nachdem er über seinen Besuch im erzbischöflichen Palast berichtet hatte. »Ich schätze sein Verhalten um so mehr, als ich zu bemerken glaube, daß ich ihm nur mäßig gefalle. Mein Auftreten soll in seinen Augen unbedingt tadellos sein. Er veranstaltet in Sanguigna Ausgrabungen, auf die er ganz versessen ist, wenigstens nach seiner gestrigen Reise zu urteilen. Er hat zwölf Meilen im Galopp zurückgelegt, umzwei Stunden bei seinen Arbeitern zu verbringen. Man könnte in dem antiken Tempel, dessen Grundmauern er kürzlich aufgedeckt hat, Bruchstücke von Bildsäulen finden, und er hat Angst, daß sie ihm gestohlen werden. Ich habe Lust, ihm anzubieten, auf sechsunddreißig Stunden nach Sanguigna zu gehen. Ich muß morgen gegen fünf Uhr nochmals zum Erzbischof, könnte am Abend abreiten und mir die nächtliche Kühle für den Ritt zunutze machen.«
Die Duchezza gab zunächst keine Antwort.
»Es scheint, als ob du nach Vorwänden suchst, mich zu meiden«, sagte sie nach einer Weile mit innigster Zärtlichkeit. »Kaum bist du von Belgirate zurück, so findest du einen Grund, von neuem wegzugehen.«
›Das ist eine günstige Gelegenheit zur Aussprache‹, sagte sich Fabrizzio. ›Am See war ich ja ein bißchen verrückt. In meinem Aufrichtigkeitstaumel habe ich außer acht gelassen, daß meine Schmeichelei nur auf eine Unverschämtheit hinausläuft. Ich müßte sagen: Ich liebe dich in aufrichtiger Freundschaft, und so weiter, aber meine Seele ist der Liebe unfähig. Hieße das nicht mit anderen Worten: Ich sehe, daß du mich liebst, aber nimm dich in acht, ich kann nicht mit gleicher Münze zahlen? Wenn mich die Duchezza liebt, so könnte sie ärgerlich sein, daß ich sie durchschaue, aber sie wäre empört über meine Unverfrorenheit, wenn sie für mich ganz einfach Freundschaft
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