Die Karte der Welt (German Edition)
bewirkt hatte. Wenn ja, war es wohl eher eine unfreiwillige Reaktion auf die Schnitte der schwarzen Klinge gewesen als ein absichtlicher Zauber. Als Kunststück auf einem Jahrmarkt mochte es ja ganz nett sein, aber einen praktischen Nutzen konnte Vill nicht erkennen. Er fragte sich sogar, ob ihn sein Gefühl nicht getrogen hatte. Er hatte zwar geglaubt, die Kälte zu spüren, aber Zauberer waren bekannt dafür, ihr Publikum zu täuschen. Genau wie dieser, der nur vorgegeben hatte, den Schleier verrücken zu können.
»Schlitzer!«
Die Kreatur ließ den gefesselten und geknebelten Magier liegen und kam angeschlichen.
»Du bist einer der schlaueren Vertreter deiner stumpfsinnigen Rasse.«
»Jawohl, Herr. Danke, Herr.«
»Ich werde dir etwas auftragen, und ich möchte, dass du meine Anweisungen genau befolgst.«
»Das werde ich, Herr. Das werde ich.«
»Bring diesen Mann an den Rand der Lichtung und mache ein Feuer unter ihm. Sag ihm, er soll seine Freunde um Hilfe anrufen. Vielleicht kommen sie.«
Der drahtige Düsterling nickte grinsend und wandte sich zum Gehen.
»Und, Schlitzer: nicht mehr Schnitte als nötig. Überlass die Arbeit den Flammen.«
Nachdem Schlitzer sich an seine Aufgabe gemacht hatte, spielte Vill mit dem Gedanken, durchs Lager zu gehen und die Truppen zu inspizieren. Doch er war hungrig und beschloss, sich zuerst etwas zu essen zu holen. Er fragte nach Wild, aber es war keins mehr übrig. Die Düsterlinge mochten weder Kräuter noch Gemüse, also gab es auch das nicht. Vill runzelte die Stirn. Bis jetzt hatte er noch nichts von dem Fleisch der Kinderbanditen gegessen, aber er konnte keinen logischen Grund erkennen, warum er es nicht tun sollte. Er erinnerte sich zwar an seinen Widerwillen gegen Kannibalismus, aber nachdem er ihn nun nicht mehr verspürte, stand es ihm frei, die Angelegenheit von der praktischen Seite aus zu betrachten und sich von dem zu ernähren, was gerade zur Verfügung stand. Vielleicht würde diese Empfindung, dieser Widerwille, ja zurückkehren.
Vill hörte die ersten Schreie des Magiers und machte sich auf den Weg zur Mitte des Lagers. Auf einem Baumstumpf, den die Düsterlinge mit einer Axt oben abgeflacht hatten, damit er als Tisch zu gebrauchen war, lag der Oberschenkel eines Menschen. Er stammte von einem der Kinderbanditen. Mit einem Messer, das sie von den Flussmenschen erbeutet hatten, schnitt ein Düsterlingkoch ihn in gleich große Portionen für die Soldaten. Weder bei dem Anblick noch bei dem Geruch regte sich irgendetwas in ihm, und Vill wollte gerade ein Stück davon nehmen, als sich vom westlichen Rand des Lagers her – aus der entgegengesetzten Richtung, in der der Zauberer abwechselnd laute Flüche ausstieß und um Hilfe rief – Lärm erhob. Vill wandte sich um. Er spürte lediglich leichte Verärgerung.
Der Lärm wurde zu panischem Geschrei. Nicht weniger als zwanzig Düsterlingfrauen rannten an Vill vorbei und verstreuten auf der hastigen Flucht ihre halb fertigen Pfeile.
Vill wollte ihnen schon befehlen stehen zu bleiben, als er die entsetzten Gesichter bemerkte. Ihre Augen schienen kurz davor, aus den Höhlen zu treten. Nichts auf der Welt würde sie aufhalten. Also sandte Vill drei seiner Soldaten in die Richtung, aus der die Frauen geflohen waren, um nachzusehen, was dort vor sich ging.
Sie rannten sofort los und kamen ebenso schnell wieder zurück. Die ersten beiden rasten an ihm vorbei, als wäre er Luft. Den dritten packte Vill an der sehnigen Schulter und riss ihm an den Hörnern den Kopf herum, damit er ihm direkt ins missgestaltete Gesicht schauen konnte.
»Was zum Teufel geschieht hier?«
48
Kravens Schreie hallten durch die Leere der Nacht. Die Düsterlinge würden ihn verbrennen oder aufschlitzen, brüllte er mit kreischender Stimme, und es schien, als hätten sie mit einem von beidem bereits angefangen. Wegen der schmerzverzerrten Stimme war schwer zu sagen, womit.
Zunächst sprach keiner ein Wort, und im Turm breitete sich eine Stille aus wie in einer Gruft. Als Kraven jedoch Wexfords Namen rief, lief Wex zu Fretter und beschwor ihn, etwas zu tun.
Der Hauptmann warnte eindringlich davor, einen Rettungsversuch zu unternehmen. Es sei ganz offensichtlich eine Falle, sagte er. Zwischen den Bäumen lauerten mit Sicherheit Bogenschützen, und ein Ausfall würde sie viele Leben kosten im Austausch für nur ein einziges.
Die Schreie waren kaum zu ertragen. Wex konnte gar nicht anders, als sich verantwortlich zu fühlen, obwohl
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