Die Karte der Welt (German Edition)
Reihen, in denen die Düsterlinge aufmarschierten, sprachen Bände. Trotz aller Raserei hielten sie die Formation.
Vill wartete noch ein wenig, ließ den Zorn sich weiter aufstauen wie Druck in einer überfüllten Schweineblase. Vermutlich ging er davon aus, dass der Kartenzeichner sich in den Fängen derselben Feinde befand, die auch seinen Spähtrupp niedergemetzelt hatten. Ein Kommando ertönte, und die Spannung entlud sich. Wie ein Wasserfall ergossen sich Vills Krieger über die Kante und jagten die Felswand hinab.
Von unten schlugen ihnen die nicht weniger wilden Schreie der Kraterbewohner entgegen, die zwischen den Palmen auf sie lauerten.
»Eine feine Hochzeit hast du da arrangiert«, kommentierte Pinch. »Wie bist du darauf gekommen, auf so elegante Weise unsere Verfolger mit den Schimmelbrüdern bekanntzumachen, mein Junge?«
»Hab ich mir von dir abgeschaut, Kuhtreiber«, erwiderte Wex mit einem Zwinkern.
Fretter stand da und ließ ein letztes Mal den Blick über den Berg schweifen. Jetzt, da das Gelingen ihrer Flucht gesichert und der Feind fürs Erste beschäftigt war, wirkte er vollkommen ruhig und entschlossen.
»Ich bin kein Priester«, erklärte er, »aber ich denke, ich sollte ein paar Worte sprechen, bevor wir diesen Ort verlassen. Worte für jene, die wir verloren haben. Wir wollen ihre Seelen den Göttern überantworten.« Der Hauptmann kniete sich hin. »An all jene, die über uns wachen und deren göttlicher Absichten Diener wir sind. Bevor wir diese Gefilde verlassen, übergeben wir Euch hiermit unsere Brüder Poppenrot Hain, Garrot Barrell, Gillam Nidigg, Harold Grinnet, Alvin Hammerstedt, Orro und Errol Dewere und unseren geliebten Hauptmann, Lothario Bukenvas. Möget Ihr ihnen auf der Reise ins Jenseits gewogen sein.«
Soldaten wie Schurken neigten die Köpfe, und sogar die beiden Flussmenschen, um ihren Respekt vor dem Ritual zu zeigen.
So viele Tote, dachte Wex , und das schon vor dem schändlichen Mord an dem Dido und seinem Volk, vor dem heldenhaften Tod des Zwergs Addel und der vielen anderen, die wir verloren haben. All das nur wegen mir. Hätte er nicht den Schleier zurückgedrängt, hätten sie einfach das Grenzgebiet kartographieren und nach wenigen Tagen wieder nach Hause zurückkehren können.
Eine Woche . Irgendetwas daran verfolgte ihn.
Fretter hob den Kopf. »Abmarsch«, befahl er. »Bevor unsere Feinde die Lust aneinander verlieren.«
»Eine Woche!«, platzte Wex heraus. »Es ist erst eine Woche her!« Verda hatte ihm gesagt, dass die Aussätzigen ihr Opferritual nur einmal pro Woche abhielten. Nur einmal . »Wir müssen da runter!«, rief er.
»Was redest du da für Schwachsinn?«, fragte der ältere Winster.
»Wir müssen nur noch über den Grat!«, rief Curdwell. »Nichts wie los!«
Selbst Pinch schaute ihn zweifelnd an.
Doch Fretter zögerte. Mit seinem letzten Vorschlag hatte Wex sie vor der sicheren Gefangennahme durch die Düsterlinge bewahrt. »Sag, was du denkst, Wexford.«
Innerhalb weniger Minuten hatte Wex nicht nur Pinch, Mungo und Arkh überzeugt, mit ihm zu gehen, sondern auch Curdwell, Spragg und Fretter. Den älteren Winster und Alver würden sie mit Brynn, Kraven und den Flussmenschen am Kraterrand zurücklassen.
»Ich komme ebenfalls mit«, verkündete Spärling.
»Das brauchst du nicht, Junge«, erwiderte Fretter.
»Ich will beweisen, dass ich kein Feigling bin«, erklärte der Soldat. »Ich muss es beweisen.«
Fretter hatte weder die Zeit noch den Wunsch, lange zu debattieren, also nickte er. Dann eilten sie den Wildpfad hinunter zum Opferaltar der Kraterkannibalen.
57
Das Dorf der Aussätzigen war so gut wie verlassen. Wie Wex vermutet hatte, waren fast alle zu der Schlacht mit den Düsterlingen geeilt. Wie viel Zeit ihnen blieb, bevor die Sieger hier auftauchen würden, war ungewiss. Wenn die Düsterlinge die Aussätzigen überwältigten, waren es vielleicht nur Minuten. Aber das bezweifelte Wex. Die Schimmelbrüder waren zahlenmäßig überlegen und kämpften in dem sumpfigen Palmenwald auf heimischem Boden.
Die Gebäude waren primitiv. Nur strohgedeckte Hütten mit Wänden aus ungehobelten Palmenholzstämmen. Die Lehmziegelwand, jene Gedenkstätte für ihre blutrünstigen Götter, war das einzig nennenswerte Bauwerk. Es kam Wex so vor, als hätten sich im Bau des Opferaltars sowohl das gesamte handwerkliche Können als auch alle Tatkraft der Aussätzigen erschöpft. Zumindest konnte er sonst nichts in dem Dorf entdecken, was von
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