Die Karte der Welt (German Edition)
zurück ins kochende Wasser.
Poppy zuckte nur die Achseln und schöpfte es für den Nächsten in der Schlange wieder heraus.
Der pechschwarze Schleier war sogar noch dunkler als die Nacht, die bald über sie hereinbrach. Er schluckte alles Licht und verbarg die höher gelegenen Bergflanken und Gipfel vor den Blicken aller, die nicht genug Fantasie hatten, sich vorzustellen, was dahinter lag.
Wex saß in der wohligen Wärme des herunterbrennenden Feuers und verarztete seinen vom Reiten wunden Hintern. Er wünschte, er hätte etwas von Wünschelruths Hühnerfettsalbe, um ihn sich damit einzureiben. Die hölzerne Bank, die Mungo schnell mit einer Axt aus einem Baumstamm gezimmert hatte, war bei weitem nicht so bequem wie die aus Schilfrohr geflochtenen Stühle im Haus seines Vaters, das nun zwei Tagesritte hinter ihm lag.
Das bisschen Wein, das sie dabeigehabt hatten, war schnell ausgetrunken gewesen, und der Rest des Trupps war rasch in Schlaf gefallen. Die Müdigkeit hatte schließlich die Oberhand über ihre Anspannung gewonnen. Mungo schnarchte wie ein Bär, das Gesicht den funkelnden Sternen am Firmament zugewandt. Wenigstens hielt der Lärm, den er veranstaltete, neugierige Tiere ab. Die anderen hatten sich in verschiedenen Erschöpfungsverrenkungen über die Lichtung verteilt, Ungeheuer und Schurken fein säuberlich getrennt von den Palastsoldaten.
Ganz in Wex’ Nähe lag Brynn. Speichel rann ihr über die Wange; ein Detail, das Wex ganz besonders gut gefiel. Wenn Lothario doch noch wach wäre und es sehen könnte , dachte er. Vielleicht würde er ihr dann weniger von diesen unverfrorenen Blicken zuwerfen. Aber Wex konnte die Aufmerksamkeit, die er auf die beiden verwendete, nicht einmal vor sich selbst rechtfertigen. In der Reihe derer, für die Brynn sich interessieren könnte, stand er, wenn überhaupt, ziemlich weit hinten. Dennoch wünschte er, Lothario würde sie so sehen.
Wex’ Gedanken wandten sich seiner Aufgabe zu, der Karte. Fretter hatte die lange Schutzhülle, in der er den Grund der Expedition aufbewahrte, einfach ans Ende seiner Bettrolle gelegt. Wegen der warmen Nacht hatten sie keine Zelte aufgestellt, und sie lag praktisch unbewacht im Freien. Ganz Abrogan war auf der ledernen Karte abgebildet, auf diesem genauso alten wie neuen, historischen wie aktuellen Dokument. Eine Kostbarkeit für Kriegsherren, Politiker und Kaufleute. So einzigartig, dass fahrende Händler einen horrenden Preis zahlen mussten, wenn sie einen Blick darauf werfen wollten. Selbst Offiziere durften lediglich die für eine bevorstehende Schlacht entscheidenden Ausschnitte auf Pergament kopieren. Diese Karte war mehr wert als Wex’ Leben, so viel war sicher.
Er beäugte sie eine Weile. Fretter war so übervorsichtig damit, dass selbst Wex sie bisher noch nie ganz zu Gesicht bekommen hatte, und die Erlaubnis, sie selbst zur Hand zu nehmen, hatte er natürlich auch nicht. Sollte ich aber , sagte Wex zu sich selbst. Immerhin war sie der Grund, weshalb er überhaupt hier war. Er erhob sich, schlich um die Feuerstelle herum und zog sie leise von Fretters Füßen weg. Dann kehrte er mit seiner Beute zu der Bank zurück und legte sie auf seinen Schoß. Nur ein ganz kurzer Blick .
Wex sah verstohlen über die Schulter, dann holte er vorsichtig die Karte heraus und löste den Zwirn, mit dem sie zusammengebunden war. Die Lederrolle klappte auf, als würde sie nach Luft schnappen, entglitt prompt Wex’ nervösen Fingern und breitete sich in alle Richtungen gleichzeitig aus wie eine ausgebüxte Schweineherde. Zu Tode erschrocken sprang Wex hinterher und bekam sie gerade noch zu fassen, bevor die Oberkante die Glutbrocken am Rand des Feuers erreichte.
Bäuchlings lag er auf der Karte und atmete erleichtert auf. Das dicke Leder fing nicht leicht Feuer, aber der überkorrekte Fretter würde mit Sicherheit jede noch so kleine Brandspur bemerken. Der rote Feuerschein fiel auf die ausgerollte Karte, und Wex blickte auf die Arbeit all der vorangegangenen Kartenzeichner. »Kartographen« hatten Lothario und Fretter sie in ihrer hochgestochenen Palastsprache genannt. Zum ersten Mal sah er sie in voller Pracht. Sie war höher, als er selbst groß war, und mindestens genauso breit. Und dennoch bestand sie nur aus einem einzigen Stück Tierhaut. Sie musste die gesamte Wand im Besprechungszimmer des Palastes bedecken. Wie groß das Tier gewesen sein mochte, aus dem sie gefertigt war, konnte er sich nicht einmal vorstellen. Vielleicht ein
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