Die Karte der Welt (German Edition)
sich aufzuwärmen und über seine Lage nachzudenken. Sein altes Leben existierte nicht mehr, so viel war klar. Doch wie lange schon? Es konnte viel Zeit verstrichen sein, dachte er, aber vielleicht war sein Geist auch nur verwirrt, und seine Verfolger waren ihm immer noch dicht auf den Fersen. Doch ganz unabhängig davon: Er musste sich ausruhen.
Vill machte eine kurze Bestandsaufnahme. Er hatte zwei gute Pfeile. Wenn er mit ihnen jagte, konnte er sie immer wieder einsammeln, reparieren und wiederverwenden, solange sie nur nicht entzweibrachen. Kein Essen. Die Beeren und das bisschen getrocknete Fleisch hatte er unterwegs verschlungen. Wasser gab es genug. Die warme Frühlingssonne bescherte es ihm im Übermaß. Eine Bisswunde. Der verletzte Oberschenkel war geschwollen und hart, aber die Haut nicht gerötet. Also hatte er keine Infektion. Glück im Unglück. Schlaf? Nicht, seitdem der Schleier ihn wieder freigegeben hatte. Kleidung? Sein Hemd war nass von Schnee und Schweiß, die Kniehosen zerrissen. Schließlich legte Vill seine Prioritäten fest: zuerst der Schlaf, dann das Essen, dann neue Kleidung. Sobald das erledigt war, würde er sich daranmachen, seinen Rachefeldzug gegen den Mann zu planen, der ihn so schändlich verraten hatte, und gegen alle, die ihm dabei geholfen hatten.
Als Vill erwachte, fand er sich umzingelt. Wer oder was immer sie waren, sie rochen abscheulich, eine Mischung aus Eiter, Schweiß und halb verdorbenem Fleisch. Dem Aussehen nach zu urteilen würden sie ihn mit größter Wahrscheinlichkeit töten und danach mit beinahe genauso großer Wahrscheinlichkeit aufessen. Doch die Erkenntnis ließ Vill seltsam unberührt. Er schaute in sein Herz, suchte nach Gefühlen, fand aber keine. Solchermaßen ungestört von Emotionen flossen seine Gedanken mit bemerkenswerter Klarheit. Ganz nüchtern schätzte er die Besucher ein: Sie gingen aufrecht und trugen primitive Keulen bei sich, also konnten sie mit Werkzeugen umgehen, hatten aber nichts, was mit seinem Bogen oder Dolch vergleichbar wäre. Einer aus der Gruppe stand etwas näher als die anderen, ein groß gewachsener Kerl, der auch die größte Keule hatte. Ihr Anführer. Offensichtlich schätzten sie Mut und Körperkraft. Sie hatten ihn nicht im Schlaf getötet, was bedeutete, dass sie neugierig waren, herausfinden wollten, wer oder was er war, möglicherweise von ihm lernen. All das wurde ihm mit einem einzigen Blick klar, hilfreiche Informationen, die ihm wahrscheinlich entgangen wären, wenn er stattdessen damit beschäftigt gewesen wäre, Angst zu empfinden.
»Könnt ihr sprechen?«, fragte er in aller Gelassenheit, um ihnen zu zeigen, dass zumindest er es konnte.
Als Reaktion riefen sie einander allerlei Ächz- und Stöhnlaute zu. Eine primitive Sprache, die er lernen konnte, wenn er Zeit dazu hatte. Doch jetzt war keine Zeit. Sie würden ihn erschlagen und kochen oder auch roh verspeisen, wenn sie zu dem Schluss kamen, dass er ihnen weder gefährlich werden noch ihnen helfen konnte. Vill musste ihnen also zeigen, dass er zumindest zu einem davon in der Lage war. Besser beides.
Er deutete auf ein Eichhörnchen, das ganz in der Nähe auf einem Ast saß, und nahm seinen Bogen zur Hand.
Als Reaktion hoben die Kreaturen laut grunzend ihre Keulen.
Vill streckte ganz langsam die Hand mit dem Bogen von sich weg, um ihnen die Waffe zu zeigen.
Der Anführer gab dem Rest der Gruppe ein Zeichen, und sie beruhigten sich wieder, beobachteten. Nur einer plapperte weiter. Der Anführer fauchte ihn an und gab ihm mit der Keule eins vor die Brust. Sie respektieren einen starken Anführer , dachte Vill. Gut . Er zog einen Pfeil aus dem Köcher, zeigte ihn der Gruppe, und als er ihn auf die Sehne legte, grinste der Anführer. Ein universaler Ausdruck. Er wollte die seltsame Waffe für sich selbst haben, überlegte Vill. Sobald er ihnen die Funktionsweise demonstriert hatte, würde der Kerl ihn erschlagen. Vill spannte die Sehne.
Das Eichhörnchen beäugte neugierig von seinem Ast aus die Szene. Der Pfeil durchbohrte seine Flanke und riss es vom Baum, sodass es nur wenige Meter von dem Anführer zu Boden fiel. Einen Moment lang herrschte Stille, während die Kerle mit großen Augen zu begreifen versuchten, was soeben geschehen war. Dann brachen sie in aufgeregtes Geschnatter aus. Sie waren soeben Zeugen von etwas ganz Erstaunlichem geworden: Nahrung, die sich außerhalb ihrer Reichweite befunden hatte, war ihnen praktisch vor die Füße
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