Die Karte der Welt (German Edition)
umher, ohne irgendetwas Bestimmtes anzusehen, während das andere die Ungeheuer anstarrte, deren Gefangener er jetzt war. Unablässig bettelte er um sein Leben in einer Sprache, die Vill zumindest teilweise verstand. Die Düsterlinge wollten ihn sofort auffressen. Aus einem Arm hatten sie bereits ein Stück herausgebissen. Sie rochen Blut, und ihre Nasenflügel zitterten vor Erwartung, aber Vill hatte schnell erkannt, dass aus dieser Beute mehr herauszuholen war als eine schnelle Mahlzeit.
»Ich bin ein gerechter Mann«, erklärte Vill. Er benutzte ganz bewusst nur einfache Worte, und er sagte sie in der Sprache, die seines Wissens in Abrogan am gebräuchlichsten war.
Der Mann nickte, als hätte er die Sprache schon einmal gehört.
Vill hob die Hand, um seine Schar im Zaum zu halten und als Zeichen des guten Willens. Hinter ihm kaute einer der Düsterlinge immer noch auf dem Fleisch herum, das er dem Mann aus dem Arm gebissen hatte. Bestimmt kein angenehmer Anblick, dachte Vill, zu sehen, wie ein anderer das eigene Fleisch verspeist.
»Du wirst selbstverständlich wollen, dass ich diese Kreaturen davon abhalte, auch den Rest von dir zu essen«, sagte Vill. »Als Gegenleistung möchte ich, dass du mir zeigst, wo deine Sippe lebt.«
Der Mann schien verstanden zu haben, zögerte aber. Er überlegte und rang die Hände – die allgemein gebräuchliche Geste dafür, dass auch er eine weitere Gegenleistung verlangte.
Hätte Vill noch irgendetwas gefühlt, er hätte vielleicht gelächelt über die Dreistigkeit seiner Geisel. Aber er fühlte nichts mehr. Er erinnerte sich zwar daran, dass er für ein Lächeln die Mundwinkel nach oben ziehen musste, aber das wäre bloße Mimik, sein Herz wäre nicht dabei. Gleichmäßig schlug es, immer im Takt und unbeirrbar, hatte gelernt, nicht zu hoffen und sich an nichts zu erfreuen während der langen Zeit im Schleier. »Ich sehe, du willst feilschen«, erklärte Vill. »Vielleicht können wir darüber reden. Wie ist dein Name?«
»Blu.«
»Und was ist es, das du außer deinem Leben von mir willst, Blu?«
»Eine Frau.«
Vill nickte. Das war ein nachvollziehbarer Wunsch. Frauen sorgten für Erben, und Erben waren nützlich, um die eigene Macht zu erhalten und sich um die Besitzungen zu kümmern, wenn man selbst zu alt dafür war. Vill erinnerte sich, dass Frauen auch einen emotionalen Wert hatten. Liebe. Schönheit. Glück. All das konnte ein Mann erstrebenswert finden. Vill selbst hatte keine Verwendung mehr für diese Dinge, aber er sah, wie wichtig sie dem Flussmenschen waren. Trotz seiner misslichen Lage hatte sich Blus Gesichtsausdruck für einen Moment aufgehellt, als er die Frau erwähnte.
»Vorausgesetzt, ich kann dir diese Frau verschaffen«, sagte Vill, »was hast du mir sonst noch anzubieten?«
Blu wandte sich um und deutete flussabwärts auf den Schleier. Seine Rede war unbeholfen, aber die Aussage klar. »Magier«, sagte er. »Kann das da bewegen.«
20
Kraven saß Wex und Fretter gegenüber. Sie befanden sich in der Kabine auf dem Schiff des Dido.
»Erklärt mir noch einmal, was ich tun soll«, sagte Wex.
Fretter brummte. »Ich dachte, ich hätte mich bereits klar und deutlich ausgedrückt. Du sollst drei weitere Biegungen in den Fluss einzeichnen, in diesen Walther. Keine mehr, keine weniger.«
»Aber warum soll ich schon wieder zeichnen?«, fragte Wex. »Wir sind hier in Sicherheit. Es geht uns gut.«
»Vor allem aufgrund der Interessensbekundungen seitens gewisser Frauen, wie mir scheint«, murmelte Kraven.
Wex wurde rot. Kraven war ein guter Beobachter, und er hatte recht. Nach den Ereignissen der letzten Nacht war Wex nicht sicher, ob er so bald wieder wegwollte. Adara hatte sich sein Boot ausgesucht. Er wusste zwar nicht, was das hieß, und sie war auch nach wenigen Augenblicken wieder verschwunden wie ein fantastischer Traum, aber der Rest der Sippe hatte reagiert, als hätte ihre Wahl etwas zu bedeuten. Genauso wie Blu. Wex hoffte sie wiederzusehen, vielleicht sogar mit ihr sprechen zu können.
»Du wirst noch einmal zeichnen, weil ich es dir befehle«, sagte Fretter in ruhigem Ton. »Ich bin dein Hauptmann, und du bist immer noch mein Untergebener. Weshalb stellt jeder meine Autorität in Frage?«
»Beim letzten Mal sagtet Ihr noch, Ihr würdet mich nie wieder in die Nähe der Karte lassen.«
Fretter verdrehte die Augen und fuhr sich frustriert durch das flachsblonde Haar. Die Karte lag zwischen ihnen ausgebreitet auf einem filigranen
Weitere Kostenlose Bücher