Die Karte der Welt (German Edition)
dieser Biegung fahren.«
Cirilla kletterte auf Mungos Schultern. »Da kommen noch mehr«, sagte sie mit ausgestrecktem Finger. »Jede Menge Boote.«
Alle versammelten sich am Wasser. Wex war aufgeregt. Gleich würde er Adara wiedersehen, und diesmal würde er sie zeichnen. Oder es zumindest versuchen. Stundenlang könnten sie dann zusammensitzen und einander in die Augen blicken.
Die ruhige Strömung trug das erste Boot heran, und sie begannen zu rufen. Alle Mienen erstrahlten. Der mürrische Curdwell lächelte, und selbst Cirillas gemeißelte Stirnfalten glätteten sich vorübergehend. Das fahrende Volk war wie eine warme Zuflucht in diesem kalten, rauen Land.
Als das Boot schon fast bei ihnen war und sie hineinsehen konnten, trat Verwirrung auf die freudigen Gesichter. Das Boot war leer. Ziellos drehte sich der von geschickten Händen gefertigte Einbaum in der Strömung.
Stumm schauten sie zu, wie er vorbeitrieb, und der Walther ihn um die nächste Biegung trug. Weitere folgten. Schon bald sprenkelten führerlose Boote den Fluss wie gehackte Fleischbrocken einen Eintopf. Ein gekentertes Dingi tanzte vorbei wie ein betrunkener Korken. Ein Floß, das nur noch zur Hälfte aus dem Wasser schaute, trieb heran und verschwand, das geborstene Steuerruder hinter sich herziehend. Ein Nachen mit einer Art Mast in der Mitte hing mit Schlagseite im Wasser. Aber der Mast war zu dünn und außerdem nicht gerade. Der Winkel stimmte nicht. Zerzauste Federn ragten aus seinem Ende. Er gehörte eindeutig nicht dorthin.
»Ein Pfeil«, sagte Pinch und musterte den Walther mit ernstem Gesicht.
Wex folgte seiner Blickrichtung. »Da schwimmt noch mehr im Wasser als nur die Boote«, sagte er schließlich.
Etwas trieb knapp unter der Oberfläche durchs seichte Wasser. Die Silhouette mit vier Extremitäten ließ keinen Zweifel, um was es sich bei dem Treibgut handelte. Es war ein Mensch. Den langen grauen Haaren nach zu urteilen eine alte Frau. Ein farbenfroher Poncho breitete sich von den Schultern über die sanften Wellen aus wie ein makabres Leichentuch – Kleidung, wie die Flussmenschen sie trugen. Ganz langsam drehte sich die Leiche in der Strömung, bis sie das Gesicht erkennen konnten. Es war die Heilerin.
»Oh nein«, flüsterte Kraven.
Noch mehr wurden herangetrieben, erst drei, dann fünf. Männer wie Frauen. Langsam zogen sie in einer schauerlichen Prozession vorbei, und sie versuchten erst gar nicht, die Leichen aus dem Wasser zu holen. An den Ufern des Walther geboren kehrten sie nun im Tode in seinen Schoß zurück.
Dann sahen sie die Barke des Dido.
Fretter schnappte nach Luft. »Bei allen heiligen …«
Sie schwelte noch. Rauchfahnen krochen aus dem Schiffsrumpf hervor wie Würmer, die sich sattgegessen hatten an ihrem verwesenden Wirt. Selbst aus der Entfernung war klar, was geschehen war. Das geschwärzte Holz und die verkohlte Reling ließen keinen Zweifel: Dies war das Werk gefräßiger Flammen, die das Schiff vom Bug bis zum Heck verzehrt hatten. Das schwimmende Zentrum der Welt der Flussmenschen war mit allem Lebendigem verbrannt. Zwei verkohlte Leichen hingen noch über den Riemen, unter pechschwarzen Fleischfetzen grinsten nackte Schädel hervor. Lautlos trieb die Barke vorbei, genauso stumm wie der Walther selbst.
Alle standen da wie erstarrt, keiner sagte ein Wort. Nicht einmal Pinch konnte sich zu dem Vorschlag durchringen, das Wrack des stolzen Schiffes nach Schätzen zu durchsuchen, die die Flammen überstanden hatten. Der bedrückende Anblick erschütterte selbst die hartgesottensten Soldaten.
»Da kommen noch mehr Boote«, sagte Spragg.
»Und sie sind nicht zerstört«, fügte Cirilla hinzu.
»Dafür ungewöhnlich klein«, ergänzte Arkh.
Das erste war jetzt ganz nah, ein Kanu, und Wex spürte, wie Hoffnung in ihm aufkeimte, denn jemand saß darin und paddelte.
»Ein Kind!«, rief Spragg.
»Jede Menge Kinder«, korrigierte Cirilla, nachdem auch die anderen Kanus in Sichtweite gekommen waren.
»Knirpse«, sagte Pinch. »Lauter klitzekleine Knirpse.«
Und er hatte recht. Die Miniatureinbäume quollen über von kleingewachsenen Paddlern, die sich mit niedergeschlagenen Gesichtern stromabwärts mühten. Doch sie waren mehr als niedergeschlagen. Das Mädchen im ersten Kanu schien völlig verstört, wahrscheinlich hatte es die Gruppe am Ufer nicht einmal bemerkt und würde einfach an ihnen vorbeipaddeln. Wex sah den verlorenen Ausdruck auf ihrem Gesicht und wusste, er würde diesen Anblick nie
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